Ich habe Angst und das ist okay!

Ich bin ein Mensch mit sehr vielen Ängsten. Zwar war ich als Kind furchtlos, doch spätestens mit der Scheidung meiner Eltern wuchsen die Ängste. Plötzlich war sie einfach da: die Angst davor, keine Familie mehr zu haben, verlassen zu werden, allein zu sein. Dann auch die Sorge nicht geliebt zu werden, neue Menschen in mein Leben zu lassen und gehen zu sehen. Mit dem Teenie-Dasein entwickelte ich Angst, nicht gemocht zu werden, nicht hübsch, klug, oder witzig genug zu sein. Ich lernte Angst vor meiner Sexualität zu haben, dumme Sprüche zu kassieren, weil ich Sex hatte oder eben keinen, oder mit dem falschen Geschlecht. Lernte die Angst, sexualisiert, reduziert, verurteilt zu werden. Mit der Entdeckung meiner weiteren sexuellen Abnormalitäten kam auch die Angst davor, anders zu sein – oder eben nicht anders genug. Mich zu entfremden, zu verlieren, nicht zu finden. Ich könnte diese Liste ewig weiterführen und müsste zugeben, dass mich alle diese Ängste schon erstarren und stillstehen ließen. Manchmal nur für einen Moment, aber manchmal auch für Wochen.

Doch sobald ich beginne, mich mit ihr auseinanderzusetzen, stelle ich immer wieder fest, dass meine Angst nur eine langweilige Spielverderberin ist. Sie sitzt den ganzen Tag im dunklen Keller und kaut an ihren Nägeln, aber sie hat nichts Besonderes an sich. Keine Abwechslung. Keine Spannung. Keine Überraschung. Meine Angst besteht immer wieder nur aus einem Wort: Nein. Unter Angst treffe ich Entscheidungen, die immer wieder zum gleichen, eintönigen Ergebnis führen. Ich weiß, dass alle Menschen diese Angst haben. Vielleicht nicht dieselbe, aber doch hat sie immer wieder den gleichen Unterton. Nein, nein, nein! Angst ermordet unsere Wünsche und Träume mit ihren „Neins“ im dunklen Kellerloch, auf das sie unangetastet dort verrotten und die Sonne des Lebens nie wiedersehen.

Trotzdem ist Angst ein wichtiger Urinstinkt und hat ihren Zweck. Wir brauchen die Angst, die im Keller sitzt und über ihre Hornbrille hinweg versucht das Leben zu kalkulieren, um uns zu beschützen, zu helfen, abzuwägen und die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist gut, dass sie da ist. Aber sie darf keine Entscheidungen treffen. Die treffe ich. Denn die Angst sagt immer ‘Nein’. Aber meine Neugierde, die sagt immer ‘Ja’. Sie ist der andere dieser verdrehten Zwillinge und hat sich bisher noch fast jeden Tag einen Kampf mit meiner Angst geliefert. Meine Neugierde, sie ist eine taffe Actionheldin, Superdetektivin, Erfinderin. Für meine Wünsche und Träume kämpft sie bis aufs Blut. Und verdammt, sie leckt sich nach allem die Finger, was mir so richtig Angst macht. Nur das ist für sie spannend, neu und wichtig. Sie möchte meine Limits nicht in Schutz nehmen wie die Angst, sondern mein Grenzen verschwimmen und weiterentwickeln sehen. Ja, meine Neugierde möchte mich wachsen sehen. Diesen Ausgleich für die Angst zu finden braucht Glauben, Zeit, Arbeit, Hingabe, Mut, und noch so viele andere Dinge, doch ich glaube jeder Mensch trägt diesen Gegenpol irgendwo in sich. Neugierde ist sicher nicht die General-Lösung, aber für mich zumindest ein Weg mit der Angst umzugehen.

Mittlerweile dürfen Angst und Neugierde bei mir mit gelegentlichem freundschaftlichen Sparring friedlich co-existieren, während ich Linienrichter spiele. Beide brauchen ihren Raum und einander. Denn ich kann eines ohne das andere nicht mehr spüren. Sie teilen sich Gedanken, Gefühle und Erlebnisse. Wenn mein Herz mal wieder höher schlägt, glaube ich manchmal sogar, die beiden teilen sich wichtige Organe. Die Angst ist also mein größtes Hindernis, aber auch mein größter Motivator. Wenn mich etwas nervös und ängstlich macht, bedeutet das zwar, mich aus meiner Komfortzone zu bewegen und ein Risiko einzugehen, aber auch mich auf ein neues Abenteuer einzulassen. Es bedeutet nicht, dass die Angst weg ist, ich bin nicht furchtlos. Aber etwas Angsteinflößendes eben trotzdem zu tun.

Gerade im Sex- und Beziehungsleben habe ich das schon viel getan. Ich habe schon geliebt, wurde schon verletzt, verlassen und habe losgelassen. Trotzdem habe ich mich wieder und wieder drauf eingelassen. Neue Menschen kennengelernt und neue Impulse bekommen. Ich habe schon mit so unglaublich vielen Menschen und auf so unglaublich viele Arten Sex gehabt, dass man mir sagte, ich müsse mich schämen. Ja, ich habe mich geschämt für so viele Dinge. Und dann den Mut gefunden, Vorurteile zu vergessen und mich nach meinen eigenen Werten zu messen. Habe meine Identität hinterfragt, meine Beziehungen sowieso und auch meine Weltsicht. Dann habe ich Weltwände eingerissen und neue Räume geschaffen. Auch diese Liste könnte ich ewig weiterführen und wäre stolz darauf. Sie zeigt, welchen Handlungen Angst angestoßen und motiviert hat. Dieser Blog ist eine davon.

Denn ich erlebe sehr viel Deviantes und kenne die Angst, mit all diesen absurden kinky und poly Gefühlen allein zu sein. Das bin ich sicher nicht. Aber ich habe noch immer Angst, dass wir auf den devianten Pfaden zu unsichtbar sind und all meine Weltansichten darum nie normaler werden. Ich habe Angst, mein Leben lang verurteilt und nicht akzeptiert zu werden, meine Ideale nicht leben zu können oder diesen Kampf für meine Ideale irgendwann aufzugeben. Deswegen unterstütze ich nun dieses kleine Projekt. Und ja, auch dieser Blog triggert meine Angst. Ich habe Angst, kein Talent zu haben, dass man mich verspottet, nicht ernst nimmt, oder, schlimmer noch, ignoriert. Ich habe Angst, mein Schreiben sei kreativ oder emotional gesehen nicht wichtig genug. Ich habe Angst zu viel von mir preis zu geben oder nicht authentisch genug zu sein. Habe Angst als Trottel, Dilettant oder Narzisst verurteilt zu werden… Ihr seht, es sind immer Ängste da. Aber das ist okay.

Trotzdem weiß ich, dass es mir die Angst immer wert ist. Denn ohne seine Komfortzone, sein Normal, zu verlassen, wäre es nicht möglich sich selbst, oder irgendetwas anderes je weiterzuentwickeln. Oder irgendetwas wirklich Interessantes, Besonderes, Einzigartiges zu erleben. Und das möchten wir doch alle irgendwie, oder nicht?