Ein alternatives Familienkonzept

Bild von Schuhen auf einem Haufen

photo credit: Dirk Knight via Flickr cc

​Eine besondere Art der Liebe ist für mich das Gefühl von Familie und Brüderlichkeit. Es umfasst bei mir nicht nur die Zuneigung zu meinem Vater, meiner Mutter, meiner Schwester und hoffentlich auch meinen Kindern (sobald ich welche habe), sondern auch zu meinen besten Freunden – also Menschen, die mir vertraut sind. Im Englischen ist das Wort Familie (family) wortverwandt mit „bekannt/vertraut“ (familiar) und legt nahe, dass es auch anderen Menschen wie mir geht. Vor einigen Jahren – es muss nun schon sehr lange her sein – warf diese Wahrnehmung eine philosophische Frage für mich auf: Was ist eigentlich Familie?

Die westliche Gesellschaft versucht mir schon seit der Geburt zu indoktrinieren, dass eine Familie immer aus einer Mutter, einem Vater und deren Kindern besteht (man bezeichnet diese Lebensform als „Kernfamilie“). Vor gerade mal 100 Jahren hatte dieses Bild der Familie das Bild der Familie als „Großfamilie“ – in der man den Haushalt auch mit seinen Großeltern und manchmal sogar mit den Tanten und Onkeln und deren Kernfamilien teilte – abgelöst. Wenn Menschen mir erklären, was sie als Familie betrachten, reden sie immer von den Menschen, die bei ihnen eine Art Bezugspunkt im Leben darstellen. Im Idealfall sind es die Menschen, mit denen sie zusammen wohnen. Da das Bild der Kernfamilie das Bild der Großfamilie abgelöst hat, wundert es mich kaum, dass sich der Lebensbezugpunkt von Menschen ändert, sobald sie Kinder bekommen, da die werdenden Eltern dadurch einen neuen Bezugspunkt bilden.

​Wer weiß, vielleicht waren in vergangenen Zeiten nach dieser Erklärungsart sogar das Hausmädchen bzw. die Kinderfrau ein Teil einer Familie. Dieses Gedankenspiel erlaubt es uns auch vorzustellen, dass nicht blutsverwandte Menschen zur Familie gezählt werden können. Ich versuche noch ein weiteres Gedankenspiel über nicht blutsverwandte Menschen:

Ich habe das Bedürfnis mit den Menschen, die mir auf eine familiäre Weise vertraut sind, zusammen zu wohnen oder zumindest mit ihnen in Kontakt zu bleiben, weil sie eine Art Bezugspunkt für mich darstellen. Vielleicht ist es eine Art „sozialer Identität“ (siehe dazu den Artikel Solo-Polyamorie – was bleibt?), die durch diese Kontakte für mich gebildet wird und diese deswegen so wichtig für mich machen. Warum ich dennoch zur Zeit mit keiner dieser Personen zusammen wohne, liegt daran, dass im Punkt „Zusammenwohnen“ die Lebensentwürfe und -vorstellungen trotz aller Gemeinsamkeiten zu weit auseinander liegen.

Und wo wir doch gerade so frei von allen Konventionen über Familie nachdenken: Wenn familiäre Vertrautheit nicht allein aus Blutsverwandtschaft entsteht, könnte es theoretisch jeder x-beliebige Mensch werden. Bei mir fiel die Wahl der Menschen immer auf Menschen, mit denen ich – zumindest für einige Jahre – Gemeinsamkeiten entdeckte. Diese Gemeinsamkeiten waren neben Hobbys und Geschmack in seltenen Fällen auch eine Art „Seelenverwandtschaft“, die sich allein auf kognitive Art und Weise nicht erklären lässt und deswegen dieser mystischen Bezeichnung bedarf. Ich benutze das Wort Wahl in diesem Zusammenhang deswegen, da es betont, dass ich mir die Menschen entweder bewusst oder im Falle der Seelenverwandtschaft unbewusst ausgesucht habe. Treffend bezeichnet Goethe diese Menschen als „Wahlverwandtschaft“ (Quelle: gleichnamiger zweiteiliger Roman von Goethe).

Das Bild einer Kernfamilie passt irgendwie sehr gut mit der dazu gehörenden Monogamie zusammen, denn in mir erzeugen beide ein Gefühl der Enge. Enge, weil ich bei so vielen Menschen beobachtet habe, wie sie in der Monogamie auf einmal nichts anderes mehr kannten als ihren Partner bzw. später die Kernfamilie. Diese Menschen hören plötzlich auf, Individuen zu sein – sie treten nur noch wie ein einziger zusammengeklebter „Kloß“, nur noch als „wir“, auf (eine Bekannte nennt solche Partnerschaften deswegen „Kloßbeziehung“). Und sie fangen an, sich für den Partner in einer Form zu verändern, die mir nicht mehr vertraut ist. Ich hingegen habe mich zu dem Menschen, der ich bin, nur deswegen entwickeln können, weil ich stets neue Leute in mein Leben und in mein Herz aufnehmen konnte und nie durch eine Partnerschaft gefangen war. Aber vermutlich verändern wir uns alle auf die ein oder andere Art und Weise, wenn wir mit Menschen zu tun haben, die uns viel bedeuten.

Wahrscheinlich ist auch diese Veränderung zu einer Person hin ​der wesentliche Bestandteil, um sich vertraut zu werden und ein familiäres Gefühl füreinander zu entwickeln. Oder ist es umgekehrt, dass das familiäre Gefühl entsteht, sobald sich jemand zu-einem-hin-verändert? Egal wie es auf emotionaler Ebene funktioniert, mein philosophischer Ansatz ist, dass Familie auch mit mehreren Menschen vorstellbar ist – ja sogar mit Menschen, bei denen man neben dem familiär-vertrautem Gefühl keine weiteren Gefühle (z.B. sexueller oder romantischer Natur) empfindet.

Seit einiger Zeit suche ich nach Menschen, die genauso wie ich zusammen mit mehreren Kernfamilien leben und sich dabei​ alle gemeinsam um die Kinder von allen kümmern möchten. Wie bereits erwähnt, war das Fehlen von gemeinsamen Lebens- und Wohnvorstellungen das Problem, warum ich es bisher nicht geschafft habe, mit familiär-vertrauten Menschen zusammen zu wohnen. ​Meine Hoffnung ist, dass sich das familiäre Gefühl automatisch einstellt, sobald man von Menschen mit ähnlichen Wohnvorstellungen umgeben ist – oder wenn nicht, dann wenigstens zu einem großen Teil. Ob die übliche induktive Methode (Ich bin verliebt, also entsteht eine Kernfamilie) auch als deduktive Methode (Ich wohne mit meiner Wahlverwandtschaft/Wahlfamilie zusammen und werde verliebt) funktioniert, wird sich noch herausstellen.

Ich bin mir noch unsicher, ob sich Kinder, die mit mir in einer Gemeinschaft wohnen, für mich auch wie eigene Kinder anfühlen können, obwohl ich nicht mit ihnen blutsverwandt bin. Immerhin scheint dies bei adoptierten Kindern auch funktionieren zu können und in einer Gemeinschaft mit anderen Kernfamilien zusammen könnte ich so viel mit den Kindern zu tun haben, dass ich sie gefühlt adoptiert habe. Kinder können sich ihre Eltern nicht aussuchen und das Spannendste an Kindern ist für mich, dass man nicht weiß, wie sie sich entwickeln und welche Entscheidungen sie treffen werden. Sie nehmen also eine Sonderstellung innerhalb einer Wahlfamilie ein, da sie durch die Abhängigkeit von den Eltern auf der einen Seite keine Wahl haben, wo sie wohnen, und auf der anderen Seite irgendwann alt genug sind, um selbst entscheiden zu können, wen sie zu ihrer Wahlfamilie zählen. Man muss sie also zunächst in der Wahlfamilie willkommen heißen – auch wenn es nicht die eigenen Kinder sind –, aber jederzeit damit rechnen, dass sie diese Gemeinschaft eher verlassen könnten als andere Menschen, die sich bewusst für die gemeinsame Wahlverwandtschaft entschieden haben.

Ich glaube, mein Bedürfnis nach Heimat bzw. einem Zuhause (siehe Somewhere I belong – wo gehöre ich hin?) ist die treibende Kraft, ein solches anstrengendes Projekt zu wagen, obwohl es auch sehr viele ähnliche Ansätze (wie z.B. Freie-Liebe-Kommunen) bereits gab, die, sobald Kinder auf die Welt kamen, nicht mehr funktionierten. Ich werde euch über meine Erfolge und Misserfolge hier auf dem Blog auf jeden Fall auf dem Laufenden halten.