Über Erwachsene, die fremdeln
Wenn kleine Kinder vertraute Menschen länger nicht gesehen haben, fremdeln sie bekanntlich. Irgendwann habe ich festgestellt: Ich mache das auch. Nicht immer so extrem, dass es mir auffällt, aber gerade bei Menschen, mit denen ich auf irgendeiner Ebene intim werde bzw. werden möchte. Ich brauche oft Zeit, um anzukommen und mich in die Situation einzufinden. Das kann gerade dann schwierig sein, wenn man nur wenige Stunden Zeit hat, sich zu sehen und aufeinander einzustellen.
Nachts nicht wissen, wo man ist
Im Grunde finde ich es immer noch ein wenig skurril, dass einem vermeintlich weltgewandten Menschen wie mir so etwas vermeintlich Kindliches passiert. Aber es gibt bereits seit Jahren erste Anzeichen davon: Ich hatte Phasen, in denen ich viel unterwegs war – zwar waren es meist nur zwei oder drei Städte, zwischen denen ich häufig wechselte, aber das hat anscheinend gereicht. Wenn ich zu diesen Zeiten nachts aufgewacht bin, wusste ich im ersten Moment im dunklen Schlafzimmer oft nicht, wo ich gerade bin – wer das Gefühl kennt, weiß, wie eklig das ist. Als ich Freunden davon erzählt habe, stellte sich interessanterweise heraus, dass fast jeder diese Situation kannte. Seitdem ich angefangen habe, an den Orten, an denen ich lebe, bewusst anzukommen, habe ich diese Desorientierung nicht mehr erlebt.
Abwarten und Tee trinken
Dafür reagiere ich sensibler auf die längere Trennung von wichtigen Menschen – womöglich kommt das auch daher, dass ich sie zum Teil nicht mehr so oft sehe, weil ich nicht mehr so exzessiv durch die Gegend fahre. Manchmal hege ich den Verdacht, dass ich im Grunde ein sehr häuslicher Mensch bin, der alle seine Freunde am liebsten in Laufweite hätte. Auf jeden Fall stelle ich fest, dass es mir anfangs oft – nicht immer – schwer fällt, mich zu entspannen. Hilfreich ist, wenn ich mehrere Menschen gleichzeitig treffe, weil ich mich zwischenzeitlich etwas zurückziehen und die anderen erst mal reden lassen kann, bevor ich mich selbst einbringe. Dadurch kann ich für mich ankommen und muss nicht sofort zu 100 Prozent präsent in der Situation sein.
Meist reicht es aber, einfach mal abzuwarten. Zumindest bei mir verschwindet das Gefühl normalerweise von selbst, wenn ich mit meinem Gegenüber spreche und wir uns langsam wieder annähern. Mittlerweile spreche ich das auch aktiv an, um zu erklären, dass ich mich anfangs etwas distanziert verhalte. Denn gerade bei körperlicher Nähe kann es etwas dauern, bis sie sich richtig anfühlt.
Regelmäßiger Kontakt hilft
Was auch helfen kann, ist, den Kontakt nicht ganz abreißen zu lassen. Regelmäßige Nachrichten oder Telefonate geben zumindest mir oft das Gefühl, dass die andere Person da ist, präsent ist. Dann fühlt sie sich außerhalb der Treffen nicht mehr so weit weg an und ich weiß zumindest grob Bescheid, was in ihrem Leben passiert. Denn wenn man noch nicht mal grundlegend weiß, was sich beim Gegenüber gerade tut, ist es schwierig, von 0 auf 100 eine entsprechende Vertrautheit herzustellen. So hat man aber Anknüpfungspunkte und muss nicht auf Standard-Smalltalk-Fragen ausweichen.
Es gibt ja diese Menschen, bei denen das Gefühl des Fremdelns nur sehr schwach oder auch gar nicht vorhanden ist. Man trifft sich – oft sogar zufällig – wieder und ist sofort in einer wunderbaren Unterhaltung verstrickt, als hätte man sich erst gestern zuletzt gesehen. Ich habe noch nicht herausgefunden, warum das Fremdeln-Gefühl bei manchen Menschen stärker ist als bei anderen – es scheint nicht immer an der Zeit der Abwesenheit zu liegen und auch nicht am Vertrautheitsgrad. Es nervt ein bisschen, aber ich versuche jetzt einfach, Möglichkeiten zu finden, damit umzugehen. Lustigerweise bin ich damit mal wieder nicht allein: Als ich mit Freunden darüber gesprochen habe, wussten alle sofort Bescheid ;-).