Polyadfinitas – für (noch) mehr Bindungen!

photo credit: Bernard Spragg. NZ via Flickr cc

Wenn ich Menschen danach frage, mit wem sie eine Beziehung haben, dann reden sie immer von den Menschen, zu denen sie Liebe empfinden. Wobei diese Liebe etwas (seit der Romantik typisch) Leidenschaftliches und Aufregendes sein muss, oder wie die Griechen es bezeichnen würden: Eros (siehe auch „Die Leichtigkeit der Liebe? Pragma kommt doch nicht von alleine.”). In einer Gesellschaft, in der die Schnelllebigkeit immer verbreiteter wird, wundert es mich nicht, wenn man von einem Hormonrausch in den nächsten fallen will. Ich finde Glücksgewinn sollte nicht allein auf (Liebes-)Konsum basieren. In diesem Artikel will ich erklären, warum ich finde, dass alleine das Ausleben von der aufregendsten Art der Liebe (Leidenschaft) für mich keine Polyamorie ist.

Dafür muss ich aber etwas weiter ausholen und zunächst erklären, was ich unter Bindung verstehe. Der Psychologe Robert Sternberg identifizierte drei Bestandteile von Liebe, die für langjährige Bindung nötig sind:

  1. Leidenschaft (Passion)
    Die physische oder emotionale Stimulation, wie z.B. starke Gefühle von Enthusiasmus, Aufregung, Eifer, Übermut, sexueller und romantischer Anziehung.

  1. Intimität (Intimacy)
    Das Gefühl von Nähe und Verschmelzung, das die Verbindung zueinander verstärkt. Dies wiederum ermöglicht, sich miteinander sicher zu fühlen und ein Gefühl von Einvernehmlichkeit bzw. Verständnis aufzubauen.

  2. Commitment (Verpflichtung)
    Im Gegensatz zu den anderen beiden Bestandteilen ist dieser Bestandteil nicht mit Gefühlen, sondern mit der bewussten Entscheidung, sich aufeinander einzulassen, verbunden. Diese Vereinbarung kann daraus bestehen, sich zu versprechen, etwas zu tun, zu geben oder sich treu zu sein – im polyamorösem Verständnis würde hier „loyal“ besser passen. Oder es kann die Haltung sein, sich Mühe zu geben und die andere Person zu unterstützen.

Die Liebe, die wir empfinden, hängt nach Sternbergs Studien davon ab, wie stark diese drei Bestandteile vertreten sind. Für die Leute, die sich gerne über Schubladen Gedanken machen, ist von seinem Modell noch interessant, dass er unterschiedliche Arten von Beziehungen definiert, je nachdem, welche Bestandteile der Liebe in der Bindung enthalten sind. Diese sind:

  • Freundschaft (liking/friendship): Intimität
  • Verknalltheit (infatuated love): Leidenschaft
  • Leere Liebe (empty love): Verpflichtung
  • Romantik (romantic love): Intimität und Leidenschaft
  • Familiäre Liebe (companionate love): Intimität und Verpflichtung
  • Neckische Liebe (fatuous love): Leidenschaft und Verpflichtung
  • Vollkommene Liebe (consummate love): Alle

Wenn ich meine eigenen Beziehungen analysiere, dann stelle ich fest, dass ich z.B. mit meiner Wahlfamilie in unserer Gemeinschaft (die übrigens wie im Artikel „Die Gemeinschaftssuche als Selbstfindungstrip, Teil 3: Ich werde Kommunist.” beschrieben nun doch nicht die Kommune Niederkaufungen geworden ist) einige Beziehungen pflege, welche andere Menschen nur mit ihrem Primärpartner und mit ihrer Familie pflegen würden: Ich gehe viele Verpflichtungen, viel Nähe und Verbindung mit diesen Menschen ein. Nach Sternberg habe ich also inzwischen viele Bindungen, die auf familiärer Liebe basieren. Das war früher nicht so. Die meiste Zeit bewegte ich mich mehr in dem Bereich von verknallten oder neckischen Beziehungen, weil es mir die letzten Jahre schwer fiel, Intimität zuzulassen (siehe auch Artikel „Warum Männer mehr kuscheln sollten“).

Aber ich bin mir unsicher, ob ich nur die Intimität in meinen Beziehungen vermisst habe oder auch die gegenseitige Verpflichtung. Ich habe mir in meinen Beziehungen Verpflichtungen gewünscht, aber mir konnte dieser Wunsch oft nicht erfüllt werden. Wenn man keine Bindungsängste hat, braucht aber wahrscheinlich jeder Mensch – also auch ich – die Sicherheit einer stabilen Beziehung mit Intimität und Verpflichtung.

Viele Menschen pflegen deswegen die Beziehung mit einem Primärpartner und planen mit diesem ihre Zukunft oder sind für diesen da, wenn er krank ist. Ich gebe zu, dass die Bindungen neben der Primärbeziehung, die auf Verknalltheit, Freundschaft oder bestenfalls Romantik basieren, auch Bindungen sind. Aber ich frage mich, wie beständig diese Bindungen sein können, wenn sie keinen Aspekt der Verpflichtung enthalten. Ohne eine derartige Beständigkeit bleibt letztendlich dann doch nur ein Partner stabil im eigenen Leben.

Deswegen glaube ich jemanden nur, dass er den Vielfachbindungsaspekt der Polyamorie verstanden hat, wenn er tatsächlich mehrere Beziehungen führt, von denen nicht nur eine Bindung über Verknalltheit oder Romantik hinausgeht. Polyamorie – und das gesellschaftlich Revolutionäre an ihr – ist für mich deswegen eine Frage der (Vielfach-)Bindung und nicht der (Vielfach-)Liebe. Vielleicht sollte ich das Wort Polyadfinitas* anstatt Polyamorie verwenden?

*Griechisch für Mehrfach (Poly) und Lateinisch für Bindung (Adfinitas)