Obsession und Hingabe
Viele inspirierende und sinngebende Erfahrungen in unserem Leben haben gleichzeitig auch etwas Dämonisches. Das beste Beispiel hierfür sind „bewusstseinserweiternde“ Erlebnisse im berauschten Zustand. Auf der einen Seite ermöglichen sie neue Sichtweisen auf die Welt und das Leben, aber auf der anderen Seite müssen diese Erlebnisse durch Drogen herbeigeführt werden, welche unserem Körper schaden und Suchtverhalten auslösen können.
Über viele einzigartige Künstler, die dies auch ohne Drogen hinbekommen, wird gesagt, dass Genie und Wahnsinn eng beieinander liegen – ein Zusammenhang, der sogar wissenschaftlich untersucht wurde. Dennoch will ich in diesem Artikel nicht vor phantastischen Erfahrungen, die P.M. in seinem Buch bolo’bolo als Schattenwirklichkeit beschreibt, warnen, sondern im Gegenteil gerade dazu aufrufen. Speziell will ich auf eine eher emotional-phantastische Erfahrung, die Hingabe, eingehen. Immer aber auch mit der Gefahr im Kopf, dass die Hingabe zur Obsession werden kann.
Obsession – im Bezug auf Beziehungen – entsteht, wenn eine emotionale Abhängigkeit besteht und eine Person ihre Autonomie aufgibt. Im Internet gibt es hierfür ein überzogenes Meme von dem „overly attached girlfriend“. Aber Obsession muss nicht unbedingt so grenzüberschreitend sein, wie es das Meme zeigt. Die Obsession kann auch tief in einem sitzen und von anderen gar nicht bemerkt werden. Das Gefährliche, wenn eine Person sich selbst für eine andere Person vollkommen aufgibt, ist, dass die andere Person zum einen eine extreme Verantwortung für beide Menschen tragen muss und sich zum anderen emotional erpresst fühlen kann, weil es nicht mehr die Möglichkeit gibt, die Beziehung zu beenden, ohne großen (psychischen?) Schaden anzurichten.
Wenn man nun hört, dass eine Person die Verantwortung für beide Menschen trägt, klingt das so, als ob der submissive Teil einer TPE-Beziehung eine Obsession haben muss. Meine Beobachtung hat aber komischerweise gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Ähnlich wie bei der romantischen Liebe ist diese Hingabe in einer TPE-Beziehung ein freiwilliger Akt, der kein Zwang ist und somit – sollte sich die andere Person irgendwann in eine ungewollte Richtung entwickeln – auch wieder gelöst werden kann. Ich vermute, der Zwang kann entstehen, wenn die freiwillige Hingabe zur Sucht wird.
Hingabe ist an sich ein sehr schönes Gefühl. Man schenkt seine Kraft, seinen Körper, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit und/oder seinen Besitz einem besonderen Menschen. Durch eine empathische Empfindung können die Bedürfnisse der anderen Menschen wahrgenommen werden – wie die Gehirnforscherin Tanja Singer herausgefunden hat, ist jeder Mensch dazu neurobiologisch in der Lage – und man ist in der Lage zu entscheiden, seine Hingabe diesem Menschen zu schenken. Leider beobachte ich bei mir und vielen anderen Menschen, dass sie zögern, sich auf diese Hingabe einzulassen. Bei mir ist der Grund dafür, dass ich entweder befürchte, dieses Investment wird nicht wertgeschätzt oder dass ich befürchte, meine Hingabe wird als Bedrängnis, mit mir Sex zu haben, empfunden. Von anderen habe ich gehört, dass erst der andere einem Hingabe zeigen soll oder dass erst ein hohes Maß an Sicherheit und Geborgenheit vorhanden sein muss, damit man sich auf diese Weise öffnen kann. Ein einziges Mal hatte ich die Befürchtung, dass, wenn ich die Hingabe erwidere, sich die andere Person mehr aus der Beziehung erhofft als sich meiner Meinung nach entwickeln kann.
Seit einiger Zeit habe ich zum Glück aufgehört, mir über solche Befürchtungen Gedanken zu machen, da ich die Zeit mit den Menschen genießen möchte, ohne den Gedanken, ob sich dieses Investment lohnt. Außerdem denke ich, dass ich in der Lage bin zu spüren, wenn sich jemand von mir bedrängt fühlt. Zwar werde ich wieder etwas verkopfter, wenn mir Menschen sehr wichtig werden, aber die unbekümmerte Phase ebnet mir den Weg mit diesen Menschen eine Ökonomie des Schenkens (vgl. Mauss – „Die Gabe“) – auch auf emotionaler Ebene – aufzubauen. Denn durch das Schenken von Hingabe werden automatisch auch die Mitmenschen inspiriert mehr Hingabe zu wagen und etwas zurückzuschenken. Deswegen hier mein Aufruf: Traut euch mehr Hingabe im ganzen Alltag zu zeigen, so dass wir das kalte Konsum- und Verschlingenverhalten durch ein warmes Geben- und Nehmenverhalten verwandeln können.