Sitte, Ekel, Scham, Schuld, alles!

Die Sünde kann einem - im übertragenen Sinn - schon mal den Mund verbieten.

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Ich war kurzzeitig auf einer Dating-Plattform für Akademiker angemeldet. Da ich es für sinnvoll halte, mit meinen Partnerinnen offen und authentisch über meine Gefühle zu anderen Menschen reden zu können, stellte ich dort an die Besuchenden meines Profils als eigene Frage: „Würdest du in einer offenen Beziehung leben wollen?“. Diese Frage wurde von den Administratoren der Plattform mit dem Verweis auf die Sittenwidrigkeit gelöscht. Im Anwaltssprech ist Sitte der übliche Umgang bzw. die ungeschriebenen Regeln innerhalb einer Gruppe. Da auf der Dating-Plattform offene Beziehungen gegen die (angebliche) Sitte der Gruppe „Akademikerehesuchende“ verstoßen, habe ich anscheinend die dort übliche Sitte verletzt. Zur Wahrung der Werte einer Gruppe kann die Sitte auch mit Maßregelung oder Ausschluss von Menschen aus der Gruppe durchgesetzt werden. Dies soll wahrscheinlich zum Schutz der Menschen dienen, die sich in ihrer sicheren Umgebung bedroht fühlen. Warum finde ich das so schlimm?

Sitte und Ekel als Ursprung für Schamgefühle

Das Sicherheitsbedürfnis einer Gruppe wird auf Kosten des Freiheitsbedürfnisses weniger Individuen durchgesetzt. Die Maßregelung oder Androhung eines Ausschlusses führen – wie ich im Folgenden erklären werde – zu Scham- und Schuldgefühlen. Im eingangs erwähnten Beispiel war das nicht weiter dramatisch, weil ich mich dann beleidigt von der Plattform abmelden konnte und dort keine wichtigen Kontakte geknüpft hatte. Wenn bestimmte Sitten aber enge Freunde, Partner oder die Familie betreffen, sieht das schon anders aus.

Wahrscheinlich wird zur Bewahrung des eigenen Sicherheitsbedürfnisses Ekel als Abwehrreaktion entwickelt. Denn was allgemein als pervers – also abseits der Sitte – gilt, erregt bei Menschen Ekel. Da ich selbst in Bezug auf Menschen sehr selten Ekel-Gefühle habe, weiß ich leider nicht, ob hinter diesem Gefühl tatsächlich ein Sicherheitsbedürfnis stecken könnte. Sicher bin ich mir jedoch, dass der Ekel dazu führt, sich von der Person zu distanzieren bzw. abzugrenzen, indem diese Person z.B. wegen ihrer sexuellen Sehnsüchte abgewertet wird. Dadurch kann der abgewertete Mensch wiederum Ekel auf sich selbst entwickeln. Ich habe bei mir gemerkt, dass dieser Ekel über mich selbst dazu führt, mich für meine Erregung zu schämen, und dass es mein Selbstwertgefühl schwächt. Manchmal traue ich mich deswegen nicht, über meine Wünsche zu reden. Manche Menschen gehen sogar so weit, dass sie ihre eigene Erregung durch Scham- und Schuldgefühle so sehr unterdrücken, dass sie Lust gar nicht mehr spüren können.

Wie fühlt sich Scham an?

Wenn ich Scham verspüre, dann merke ich, wie sich eine Ohnmacht in mir breit macht, die mich daran hindert, frei zu reden. Obwohl Penis und Vagina eigentlich ganz sachliche Worte für unsere Körperteile sind, fällt es mir manchmal schwer, „ernst“ darüber zu reden und nicht nur im vulgären oder „spaßigen“ Sprachgebrauch. Eine andere Wirkung ist, dass ich aus dem Kontakt mit den Menschen gehe, weil ich z.B. ihnen nicht mehr in die Augen schauen kann, wenn ich mich schäme.

Das lähmende Gefühl von Scham fühlt sich bei mir sehr ähnlich an wie Schuld. Zum Beispiel fällt es mir total schwer, jemanden, den ich attraktiv finde, zu fragen, ob er Sex möchte. Bzw. überhaupt zuzugeben, dass ich Sex mit jemandem möchte. Ich habe Angst vor der Zurückweisung, aber noch mehr fürchte ich, eine Frau könnte allein diesen Wunsch als fordernd oder grenzüberschreitend empfinden – egal, wie freundlich ich diesen Wunsch formulieren würde. Das liegt daran, dass ich bereits die Erfahrung gemacht habe, dass meine (sexuellen) Wünsche für jemand anderen zu viel sein können und ich mich für die (Ekel?)Gefühle des anderen dann schuldig fühle. Inzwischen bin ich aber der Meinung, dass es gut ist, offen und ehrlich mit meinen Bedürfnissen zu sein, und mache mich im Kennenlernprozess nicht verantwortlich für die Gefühle des Anderen.

Scham durch Erziehung

Diese Schamgefühle haben oft einen frühen Ursprung. Viele junge Menschen haben keine Worte, um zu beschreiben, wenn sie ungewollt am Körper angefasst wurden, weil Worte wie z.B. Penis oder Vagina durch unsere Erziehung zu schambehaftet sind. Zusätzlich wird Kindern oft mit Sätzen wie z.B. „Opa will doch nur eine Umarmung, stell dich nicht so an!“ beigebracht, ihren eigenen Gefühlen nicht zu trauen, und dass ihr Körper fremdbestimmt werden darf. Noch schlimmer wird der Verlust der Autonomie über den eigenen Körper, wenn Selbstbefriedigung als etwas „Schmutziges“ oder „Verbotenes“ bezeichnet wird. Die Initiative Strohhalm e.V. schlussfolgert daraus, dass diese Erziehung junge Menschen zu einfachen Opfern von sexuellem Missbrauch macht, da Vergewaltiger die Ohnmachtsgefühle, die aus der daraus resultierenden Scham entstehen, als Machtmittel zur Fremdbestimmung des anderen Körpers ausnutzen können.

Grenzüberschreitungen

Man muss kein psychopathischer Vergewaltiger, der sich an der Grenzüberschreitungen aufgeilt, sein, um aus scham- und schuldbehafteter (Un-)Kommunikation Grenzen zu überschreiten. Wie bereits beschrieben, ist es wichtig, offen über seine Wünsche zu reden und sich dafür nicht zu schämen. Ich bin solange nicht verantwortlich für die Gefühle und Bedürfnisse des anderen, solange er mir diese noch nicht mitgeteilt hat. Wenn ich allerdings weiß, wie der andere empfindet, bin ich überhaupt erst in der Lage, Rücksicht darauf zu nehmen. Also muss auch auf der anderen Seite eine offene Kommunikation über dessen Grenzen stattfinden. Die Gedanken über Grenzen sind allerdings oft ebenfalls schambehaftet.

Viele Menschen reden nicht über ihre Grenzen, weil sie sich z.B. durch die o.g. Erziehung das Recht für ihre Grenzen nicht eingestehen: Lieber halten sie die Grenzüberschreitungen aus, als den anderen zu enttäuschen und damit die Liebe und Nähe zu diesem Menschen zu riskieren. Ähnlich ist der Gedanke, es wäre die Pflicht, für den Anderen verfügbar zu sein. Beispielsweise weil man denkt, als „gute Frau“ wäre man das einem Mann schuldig, oder weil man denkt, als „echter Mann“ müsste man doch „eigentlich immer“ Lust verspüren.

Ich bin mir sicher, dass die Überwindung der Scham nicht nur zur freien Entfaltung der eigenen Sexualität, sondern auch zur Stärkung des Selbstwertgefühls führen kann. Viele übergriffige Situationen könnten womöglich verhindert werden, wenn es den Menschen einfacher fallen würde, offen mit ihren Partnern über ihre sexuellen Sehnsüchte und Fantasien zu sprechen. Mir geht es nicht darum, dass man vor jedem Sex erst einen Vertrag aushandeln muss, sondern dass alle Menschen stark genug wären, für ihre eigenen Grenzen und Wünsche einzustehen. Scham und Schuld stehen uns bei dieser Entwicklung im Weg.

Mein Appell für mehr Sittenwidrigkeit!