Schmelztiegel – Über das kategorienübergreifende Teilen von Tischen, Betten und Herzen, Teil 1

Foto von zwei Freundinnen von Aftab Uzzaman (Quelle: https://www.flickr.com/photos/aftab/3120914197/)

photo credit: Aftab Uzzaman via Flickr cc

Die gängigen Vorstellungen romantischer Liebe lösten bei mir schon immer diffuses Unbehagen aus. Dennoch prägten sie mein (Liebes-)Leben, noch bis vor kurzem. Es ist unfassbar schwierig, Lebens- und Liebensweisen auszuprobieren, für die man weder Vorbilder noch Worte hat. Ich beobachte seit einiger Zeit, dass sich in meinem Erleben und Empfinden Konzepte wie “Beziehung“,  „Geliebte*r“, „Freund*in“, „Sexualpartner*in“, „Wahlfamilie“ vermischen und auflösen. Jetzt, wo ich in einer Gruppe und Subsubkultur lebe, in der sich die einzelnen Leben unter anderem in Freundschaft, Liebe, Sexualität, Arbeit, politischem Engagement und Kunst verflechten, spiegelt meine Lebensrealität endlich selbige Empfindungen und meine geistige Freiheit. Mit den Worten kämpfe ich nach wie vor. Ein Versuch.

Freundschaft

Freundschaften werden üblicherweise in Form von außeralltäglichen Begegnungen inszeniert und erlebt. Sie sollen der Entspannung, Zerstreuung und Entlastung vom Berufs- und Familienalltag dienen. Man findet Gemeinsamkeiten heraus und gestaltet dementsprechend die gemeinsamen Aktivitäten. Die Zahl und Charakteristik solcher Freundschaftsbeziehungen ist theoretisch unbegrenzt. Es gibt oberflächlichere und tiefere Verbindungen, kürzere und längere, mit manchen verbringt man mehr Lebenszeit, mit anderen weniger. Die einzelnen Freundschaften funktionieren in der Regel unabhängig von anderen Beziehungen. Die Beziehung ergibt sich aus dem Umgang miteinander und braucht nicht zusätzlich bestätigt zu werden. „Gute“ Freunde stellen wenig Ansprüche aneinander.

Üblicherweise ändern sich die „Regeln“ der zwischenmenschlichen Beziehung, sobald „Liebe“ oder „Sex“ ins Spiel kommt. Ein „Liebespartner“ beansprucht einen besonderen Ort im Leben des anderen und entwickelt für gewöhnlich mit steigender „Verbindlichkeit“ ein Set an Erwartungen. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig so sein. Wir können die Art und Weise, wie wir Freundschaftsbeziehungen gestalten, auf unsere Liebes- und sexuellen Beziehungen übertragen. Obwohl wir dann auf vermeintliche Sicherheiten verzichten, kann sich eine erhebliche Entspannung einstellen. Wir müssen nicht mehr die Nummer 1 sein, andere Beziehungen werden nicht mehr so sehr als Bedrohung wahrgenommen, Beziehungen werden vielfältig und lebendig, weil nichts selbstverständlich oder vorhersehbar ist. Es ist leichter, unsere Autonomie und Integrität zu erhalten und respektvoll miteinander umzugehen.

Liebe

Das, was wir heutzutage unter „Liebesbeziehung“ verstehen, „romantic love“ oder „romantische Liebe“, ist eine kulturelle Sonderform der Liebe, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbstverständlich wurde. Wir verstehen darunter zumeist sexuelle Beziehungen ohne erklärte Heiratsabsicht, die sich durch einen „Rausch der Gefühle“, extreme Zugeneigtheit, Leidenschaft, Begehren, Sehnsucht nach Nähe, einen starken Wunsch nach Intimität und nach Dauerhaftigkeit auszeichnen. Oft fühlt es sich wie eine schicksalhafte Begegnung an, bei der zwei Seelen durch die Kraft ihrer Gefühle geradezu magisch miteinander verbunden werden. Man gibt sich authentisch und liebt einander um seiner selbst willen, bestätigt einander so seine Einzigartigkeit.

Als alternatives theoretisches Verständnis von Liebe, die nicht darauf abzielt, das innerste Wesen der Geliebten in seiner Ganzheit und Individualität anzunehmen und zu bestätigen, gefallen mir zwei Ansätze, die das oben beschriebene Verständnis von Freundschaft unterfüttern.

1. Die Liebe als eine besondere Form von Spiel

Wie James P. Carse beschreibt, werden in einem freien, unbegrenzten Spiel, anders als im begrenzten Spiel, nicht von vornherein Grenzen und Regeln vereinbart, die den Verlauf des Spiels einrahmen. Man spielt nicht, um zu gewinnen, sondern um weiterzuspielen. Die Regeln können jederzeit angepasst werden. Das Spiel kann mit zwei oder mehr Spielern gespielt werden, die jederzeit aussteigen können. Obwohl ein Spiel, so auch das Spiel der Liebe, in erster Linie der Freude aller Beteiligten dient, bedeutet dies nicht, dass wir leichtfertig agieren. Spielen geht oft mit Leidenschaft und tiefen Gefühlen einher. Eine gewisse Ernsthaftigkeit, Disziplin und Konzentration zu investieren ist nützlich für das Sammeln von Erfahrungen und Know-how und damit für das Gelingen des Spiels.

Konkreter bedeutet dies, dass wir zu Beginn nicht wissen, welche Art von Beziehung entstehen wird. Es wird kein Ergebnis „verordnet“, notwendig ist lediglich der Wunsch, gemeinsam weiterzuspielen. Die Beziehung wie die Liebespartner sind offen für Überraschungen, alles was passiert, hat Konsequenzen. Verspielt zu sein bedeutet, alle Möglichkeiten zu erlauben, man erwartet sogar, überrascht zu werden. Wendungen und Wandel bedeuten, dass das Spiel weitergehen kann. Wir spielen also mit großer Offenheit, in Form von Verletzlichkeit. „It is not a matter of exposing one’s unchanging identity, the true self that has always been, but a way of exposing one’s ceaseless growth, the dynamic self that has yet to be. The infinite player does not expect only to be amused by surprise, but to be transformed by it […]“ (“Es geht nicht darum, seine unveränderliche Identität preiszugeben, das wahre Selbst, das immer schon da war, sondern eine Möglichkeit, sein unablässiges Wachstum zu enthüllen, das dynamische Selbst, das es erst noch geben wird. Die unendliche Spielerin erwartet nicht nur, von der Überraschung unterhalten zu werden, sondern durch sie transformiert zu werden […]).

2. Die Liebe als Praxis

Für Erich Fromm sind die beiden Grundbedürfnisse des Menschen in der Liebe, sich mit einem anderen Menschen zu vereinigen und einen anderen Menschen zu ergründen. Nur die Liebe eines reifen Menschen wahrt die eigenen Individualität und Integrität und kann niemals auf Leidenschaft beruhen, sondern muss auf freiem Willen basieren. Demnach sieht Erich Fromm die Liebe nicht einfach als schönes Gefühl, dem man sich nur hinzugeben braucht, sondern als eine Praxis, die Wissen und aktives Bemühen erfordert.

Die Liebe des aktiven Charakters enthält die Elemente der Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem Anderen und Erkenntnis. Als allgemeine Voraussetzungen, die für die Ausübung der Kunst des Liebens nützlich sind, nennt Fromm Selbstdisziplin, Konzentration, Geduld, das Wichtignehmen der Kunst und ein Gespür für sich selbst.

Eine Praxis wird um ihrer selbst willen ausgeübt und erfüllt keinen weiteren Zweck, als die erforderlichen Tätigkeiten möglichst vortrefflich auszuführen. Idealerweise empfinden die Ausübenden genau darin besondere Freude. Zudem können sie mit der Ausführung der Praxis besonders wertvolle Eigenschaften und Befähigungen erwerben.

Vielen Dank an Eva für diesen interessanten Gastartikel, der die Gedanken diverser anderer Artikel hier aufgreift und auf den Punkt bringt. Den zweiten Teil gibt es hier zu lesen.

Eva arbeitet seit 2013 hauptberuflich als Tantramasseurin. Man kann ihre Massage hier erleben.