Schmelztiegel – Über das kategorienübergreifende Teilen von Tischen, Betten und Herzen, Teil 2

Zebras trinken gemeinsam am Fluss (Quelle: Aftab Uzzaman auf https://www.flickr.com/photos/aftab/4175036335/)

photo credit: Aftab Uzzaman via Flickr cc

Wahlfamilie

Unter „Wahlfamilie“ oder „Wahlverwandtschaft“ verstehe ich hier auf Dauer angelegte Freundschaften mit einem hohen Grad von Verbindlichkeit, räumlicher Nähe und einer gewissen Dichte der gemeinsamen Erfahrung. Sie unterscheiden sich in zweifacher Hinsicht von „gewöhnlichen“ Freundschaften:

1. Inneralltäglicher Resonanzraum

Während freundschaftliche Begegnungen für gewöhnlich als Ausgleich zum Alltagsleben in Beruf und Familie fungieren, ist das gemeinsame Leben, Handeln und Wirken fundamentaler Bestandteil meiner wahlverwandtschaftlichen Bindungen. Anders als in Ehen oder Familien bleibt die persönliche Autonomie und Integrität gewahrt, sodass weniger Gefahr besteht, dass Routinen und Alltagszwänge das Eintreten in den „Resonanzmodus“ erschweren oder verhindern. Dadurch werden sie, ganz so wie Hartmut Rosa dies für die „herkömmliche“ Familie beschreibt, zum „Anker für Empathie, Hingabe, Zuwendung, Sinn, Bedeutung“.

2. Verwurzelung

Die Wahlfamilie wirkt insofern entlastend und befreiend, als dass sie essenzielle menschliche Bedürfnisse befriedigt, die für gewöhnlich der romantischen Zweierbeziehung aufgebürdet werden. Das Selbst wird durch eine Gemeinschaft anerkannt und bestätigt und muss seinen Wert nicht mehr aus sich heraus schaffen. Nicht mehr die Identität und Individualität ist die zentrale Größe, sondern die Zugehörigkeit zur Gruppe, Loyalität und das Aufweisen eines guten Charakters. Die Liebe und der Sex sind dann nicht mehr der zentrale Ort der Bestätigung durch andere. Anders als in der modernen Liebesbeziehung, die allein durch das Gefühl der Liebe selbst gesichert wird, deren Fortbestehen und Echtheit deshalb permanent ängstlich überprüft werden muss, sind in der Wahlfamilie andere Sinnzusammenhänge und Praktiken relevant. Man teilt Raum, Leben, Handlungen und Gefühle weitgehend und auf Dauer.

Sind so, im besten Falle, Bedürfnisse danach, einen Beitrag zu leisten, nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Bestätigung der eigenen Person und des eigenen Erlebens erfüllt, kann die romantische Liebe, das sich Verlieben, eine ganz neue Qualität (wieder)gewinnen. Weil die Liebeserfahrung nicht mehr das Fundament unseres Selbstwertes und unseres Sicherheitsempfindens ist, darf sie wieder an Wucht gewinnen, die Verzauberung darf wieder unser ganzes Selbst erfassen.

Die Wahlverwandtschaft, in der ich derzeit zuhause bin, unterscheidet sich von den meisten anderen freundschaftsbasierten Wohngemeinschaften insofern, als dass Liebe und Sexualität selbstverständlicher Teil des gemeinsamen Lebens sind. Die Kunst der Liebe kann hier geübt und verfeinert werden. Die Freundschaft endet nicht, wie üblicherweise bei Erwachsenen, an der Körpergrenze, sondern Sexualität hat einen Wert an sich, losgelöst von romantischen Gefühlen und bestimmten Beziehungsstrukturen. Entsprechend überlagert sich die Wahlverwandtschaft mit einem Netz unterschiedlichster Beziehungen. Viele Einzelspiele verknüpfen sich zu einem einzigen großen Spiel.

Sexualität

Im sexuellen Spiel kommt der Spiel-Charakter der Liebe am eindrücklichsten zum Ausdruck. In der sexuellen Begegnung verdichten sich zudem zwei zentrale Dimensionen einer Praxis der Liebe:

1. Wechselseitiges „Beglücken“

Die sexuelle Interaktion ist eine hervorragende Möglichkeit, dem Gegenüber absichtlich auf umfassende und bewegende Art Glück zu bereiten, die Hingabe zum eigenen sexuellen Glück kann selbst zu einem Geschenk werden. Voraussetzung für ein gutes Gelingen dieses Wechselspiels sind beispielsweise Genuss und Überraschung, Gleichklang, Hingabe, Unbeschwertheit, Einfühlungsvermögen.

2. Teilen existenzieller Handlungen

Bei hinreichender Offenheit und Sicherheit vermag uns das sexuelle Spiel in unserem ganzen Wesen zu erfassen und so das gemeinsame Projekt, wesentliche Handlungen miteinander zu teilen, immer wieder aufs Neue in Kraft zu setzen. Im Sex wird das Teilen von existenziellen Gefühlen wie Angst, Verletzlichkeit, Lust, Scham, Ekstase stetig aufs Neue wiederholt.

Wir setzen also gewissermaßen sexuelle und sinnliche Begegnung zur Gestaltung unseres sozialen Miteinanders ein. Sexualität wird zu einer von vielen Möglichkeiten, ein gemeinsames Leben zu gestalten. Wir verstehen den sozialen Raum des Sinnlichen nicht als einen Nebenschauplatz unserer Alltagswirklichkeit, sondern er durchdringt unsere gemeinschaftlich organisierte Kultur.

In meinem Leben gibt es derzeit mehrere unterschiedliche, labellose, bedeutungsvolle Verbindungen, die sich durch jeweils verschiedene Kombinationen und Intensitäten bestimmter Charakteristika auszeichnen: geteiltes Leben/Zeit/Biografie, Gefühle teilen/emotionale Nähe, gemeinsames Arbeiten/Wirken/Schaffen, companionship/“Gefährtenschaft“, “Verliebtsein“/Rausch/Verzauberung/Wucht/Leidenschaft, committment/Verbindlichkeit, sexuelles Begehren, gelebte Sinnlichkeit/Sexualität, körperliche Nähe/Zärtlichkeit, intellektuelle/geistige Faszination, platonische Liebe/Freundschaft, Intimität.

Mein Anliegen ist nichts weniger als der Umbau der derzeitigen Mainstream-Beziehungskultur, zumindest das Mitgestalten von Subkultur(en) und Erschaffen von Erfahrungsräumen für Menschen, die ihre Liebe und Sexualität frei und selbstbestimmt gestalten möchten.

Liebe und Sex sind kulturelle Handlungen, wir schaffen mit unseren Handlungen Kultur. Doch Menschen sind sprachliche Wesen und brauchen Worte für ihr Erleben und für ihre Wünsche. Es gibt also einen Bedarf nach alternativen Leitmotiven, Bildern, Narrativen, nach einer anderen Beschreibung.

Dieser Text wurde wesentlich inspiriert durch:

Herzlichen Dank.

Wir danken auch, liebe Eva, für diesen wahnsinnig inspirierenden Gastartikel. Den ersten Teil kann man hier nachlesen.

Eva arbeitet seit 2013 hauptberuflich als Tantramasseurin. Man kann ihre Massage hier erleben.