Spielerisches Konsensieren

Ich finde es immer schwer, mit einer neuen Gefährtin die Beziehung zu definieren. Ich versuche immer, meine Gefühle und Erwartungen klar zu kommunizieren, damit meine Gefährtinnen genau wissen, woran sie sind, und wünsche mir das auch von ihnen. Leider hat jeder Mensch andere Vorstellungen, was er unter Liebe oder Beziehung versteht. Bei monogamen Beziehungen kann man anhand des „Beziehungsaufzugs“ (siehe auch den Artikel Flying Solo) recht gut festmachen, wie tief eine Beziehung bereits ist. Allerdings funktioniert das bei nicht-monogamen Beziehungen nicht, da jeder „Beziehungsvertrag“ unabhängig von den Beziehungsaufzug-Vorstellungen mit einem Gefährten vollkommen unterschiedlich gestaltet sein kann. Ich finde, das ist einer der Vorzüge von nicht-monogamen Beziehungen, da dadurch auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Beziehungsverträge entstehen können. Allerdings ist es dadurch unmöglich, ein Vokabular mit passenden Schubladen zu erstellen.

Manchen Menschen tut es gut, dass eine Beziehung nicht in eine Schublade gesteckt werden kann; sie können diese lockere Formlosigkeit genießen. Ich gehöre nicht zu ihnen: Ich muss zwar nicht eine Schublade mit einem Etikett haben, aber ich brauche eine Vorstellung davon, wie der Rahmen einer Beziehung aussieht. Ich möchte nicht vermuten oder erraten, ob ich einen Konsens in den Beziehungsvorstellungen mit einer Gefährtin habe, sondern mir sicher sein, dass dieser besteht. Mir geht es nicht darum, diesen Beziehungsvertrag für immer und ewig festzulegen – diese Sicherheit wird es nie geben –, sondern ich möchte Klarheit darüber, woran wir beide zur Zeit sind.

Spielerisch herausfinden, was alle Beziehungspartner wollen

Als ich meine neue Gefährtin vor einem Jahr traf, hatte ich auch wieder dieses Bedürfnis, zu wissen, wohin diese Beziehung gehen könnte. Damals war sie noch nicht bereit, mit mir zusammen Pläne für die Zukunft zu machen, und so sind wir bis vor kurzem in lockerem Kontakt geblieben. In der Zwischenzeit haben sich ihre Bedürfnisse verändert und es fängt langsam an, dass sich ihre Bedürfnisse mit meinen decken. Als ich sie kürzlich besucht habe, schlug ich deswegen vor, herauszufinden, inwiefern das denn stimmt. Dafür habe ich eine spielerische Methode mit Elementen aus der gewaltfreien Kommunikation, dem Konsensprinzip und Brettspielen entwickelt: Das spielerische Konsensieren. Dieses Verfahren haben wir zusammen ausprobiert.

Das spielerische Konsensieren ist ein Spiel mit drei Phasen. Bevor man beginnt, sollte zunächst die Fragestellung festgelegt werden. Das hatten wir bei unserem Probespiel vergessen. Aber uns war klar, dass es um gemeinsame Beziehungsvorstellungen und somit um viele Themen, die wir bereits in unserem einjährigen Kontakt angesprochen hatten, gehen soll. Außerdem sollte man im Vorfeld auch festlegen, wie viel Zeit man investieren möchte, damit das Spiel einen definierten Anfang und Ende hat. Als Material braucht man Stifte, große Karten, kleine Karten, eine Sanduhr (5 Minuten) und drei verschiedene Sorten von Spielfiguren in verschiedenen Farben entsprechend nach der Anzahl der Teilnehmer.

Phase 1: Brainstorming

In der ersten Phase (wir hatten für uns 30 Minuten festgelegt) schreibt sich jeder Teilnehmer Stichworte, Bilder oder einen kurzen Satz auf große Karten auf. Diese Karten dienen in der zweiten Phase als Gedankenstütze für verschiedene Themen. Wichtig hierbei ist, dass es sich bei diesen Punkten um Ich-Botschaften handelt. D.h. wenn man mit dieser Karte den Mitspielern etwas mitteilen möchte, dann soll es sich dabei ausschließlich um die eigenen Meinungen und Gefühle handeln. Falsch wäre hier von „der Gesellschaft“ oder „den Anderen“ zu reden; es geht darum, „bei sich selbst“ zu bleiben. Ich habe bei dem Spiel festgestellt, dass es für mich einfacher ist, den anderen zuzuhören, wenn ich auf meinen bereits geschriebenen Karten die wichtigsten Themen festgehalten habe, weil ich dadurch keine Angst haben muss, irgendetwas Wichtiges zu vergessen.

Phase 2: Über wichtige Themen sprechen und zuhören

In der zweiten Phase fängt der Teilnehmer mit den meisten großen Karten an und danach ist jeder reihum im Uhrzeigersinn dran. Wir hatten in unserem Probespiel festgelegt, dass jeder zwölf Mal an die Reihe kommt. Nach sechs Runden haben wir eine Pause gemacht – insgesamt waren wir ohne Pause ca. drei Stunden beschäftigt. Wer an der Reihe ist, dreht die Sanduhr um (er hat somit für seinen Zug fünf Minuten Zeit) und hat drei Möglichkeiten: 1. Eine große Karte von der Hand ausspielen, 2. eine kleine Karte anlegen oder 3. pausieren. Mit einer großen Karte kann man entweder ein neues Thema eröffnen oder seine Karte an einen bestehenden Themenkomplex anlegen. Wenn man sich zu einem bestehenden Themenkomplex mitteilen möchte, aber keine passende Karte auf der Hand hast, kann man eine kleine Karte beschriften und diese an den entsprechenden Themenkomplex anlegen.

Während der festgelegten fünf Minuten müssen alle anderen schweigen und ihre volle Aufmerksamkeit der sprechenden Person schenken. Die Zuhörer sollten vermeiden, sich eine Antwort zurecht zu legen oder sich über ihren nächsten Zug Gedanken machen – die Motivation besteht idealerweise nur darin, den anderen zu verstehen, ohne ihn dabei zu bewerten. Bei dieser vollkommenen Aufmerksamkeit kann es sein, dass bei dem Sprechenden intensive Gefühle hochkommen. Dies darf auch im spielerischen Konsensieren Raum haben – es ist sogar notwendig, diese Gefühle zu zeigen, damit die Zuhörenden den Sprecher verstehen können. In unserem Probespiel haben wir deswegen geweint und gelacht. Manchmal kommen diese Gefühle hoch, weil noch etwas Zeit in der Sanduhr übrig ist und die Worte unkommentiert im Raum stehen. Seinen Zug dafür zu nutzen, einfach nur fünf Minuten zu schweigen, kann deswegen auch sehr intensiv sein. In unserem Probespiel wollten wir aber alle unsere Karten ausspielen und haben deswegen diese Möglichkeit nicht ausprobiert.

Wenn die Sanduhr durchgelaufen ist, kommen die Spielfiguren zum Einsatz. Jeder Teilnehmer setzt gleichzeitig eine der drei Spielfiguren in seiner Farbe auf den gerade angesprochenen Themenkomplex bzw. tauscht ggf. die Spielfigur aus, wenn dort bereits eine eigene Spielfigur liegt. Eine Spielfigur in der ersten Farbe soll signalisieren, dass man sich mit dem Gesagten vollkommen identifizieren kann und es mit anderen Worten genauso formuliert hätte. Eine Spielfigur in der zweiten Farbe soll signalisieren, dass man zwar generell das Thema unterstützt, aber es aus der eigenen Sicht noch nicht „rund“ ist, oder dass man einen Vorschlag hat, wie man dieses Thema erweitern kann. Die Spielfigur in der dritten Farbe soll markieren, dass man dieses Thema heute nicht entscheiden kann und man sich dazu erst noch einige Tage, Wochen, Monate oder Jahre Gedanken machen muss. Während man seine Spielfigur platziert, darf man seinen Einsatz zwar kommentieren, aber man muss sich auf einen einzigen Satz (mit maximal einem Nebensatz) beschränken.

Wie man sieht, gibt es beim spielerischen Konsensieren kein „Veto“. Warum? Wenn jemand bei einem Thema, das einer Person wichtig ist, so sehr widerspricht, dass kein Konsens möglich ist, dann kann diese Person nicht mehr Teil der Gruppe sein. Konsens ist keine Demokratie. Entweder man gehört dem Konsens an oder nicht. Mit den Spielfiguren hat man jedoch die Möglichkeit, Themen zu vertagen oder sich selbst in ein Thema einzubringen, um es zu vervollständigen. Dadurch sollte auch mit etwas mehr Zeit oder zunächst scheinbar gegensätzlichen Vorstellungen ein Konsens erreichbar sein.

Phase 3: Gemeinsam Resümee ziehen

In der letzten Phase schaut man sich das Spielfeld an und hat die Möglichkeit, einen Kommentar abzugeben. Diese Phase ist nicht gedacht, um Themen zu ergänzen, sondern einen Abschluss zu finden. Jeder kann sich Gedanken machen, wie er sich mit dem Ausgang des Spiels fühlt, wo er weiteres Konfliktpotenzial sieht oder wo man sich freut, einen Konsens gefunden zu haben. Diese Abschlussrunde soll mehr ein Blitzlicht sein, in dem sich – insbesondere in größeren Gruppen – jeder auf zwei Minuten beschränken sollte.

Mein Fazit

Ich denke das Spiel eignet sich für möglichst kleine Gruppen – es ist also perfekt, um einen Beziehungsvertrag auszuhandeln. Wenn jeder mindestens drei Mal dran sein soll, würde ein Spiel mit zwölf Menschen wahrscheinlich vier Stunden dauern. Das Besondere daran ist: Dadurch, dass jede Person exakt dieselbe Zeit hat, sich einzubringen, ist ein Austausch auf gleichberechtigter Ebene möglich. Für einen Konsens finde ich das besonders wichtig, da es nicht darum geht, die anderen zu überzeugen, sondern ein gemeinsames Gruppengefühl mit der Integration der Bedürfnisse jeder einzelnen Person zu entwickeln.