Wie funktioniert menschliche Annäherung? – Interview mit Merle über Raufspiele

Merle Deutschmann kenne ich von den Raufspielen. Im Artikel Sexpositive Räume wurde sie erwähnt und dadurch sind wir ins Gespräch gekommen.

Pablo: Hallo Merle – ist das ein Spitzname? –, du veranstaltest häufig Raufspiele. Magst du unseren Leserinnen und Lesern kurz erzählen, was sich dahinter verbirgt und wie deine Art der Raufspiele aussieht?

Merle: Hallo Pablo! Merle ist tatsächlich mein richtiger Name. Er existiert allerdings auch als Abkürzung für Merlinde, soweit ich weiß.

Die Raufspiele sind ein Workshop, in dem es um vorrangig nonverbale Kontaktaufnahme mit anderen Individuen geht. Innerhalb des Workshops gibt es nur eine einzige wirkliche Regel: Ein „Nein“ muss akzeptiert werden. Ansonsten bist du frei, deine eigenen Grenzen auszuloten. Insgesamt leite ich recht viel Selbsterfahrung durch zur Reflexion anregende Fragen an.

Sind deine Raufspiele – wie von mir interpretiert – eine Art sexpositiver Raum?

Ja, tatsächlich. Nacktheit und sexuelle Handlungen sind erlaubt.

Wenn der Raum quasi „offen für alles“ ist, kann ich mir vorstellen, dass das einige Unsicherheiten auslösen könnte. Wie schaffst du es, dass sich mit dieser Spannung alle wohlfühlen?

Das ist eine wunderbare Frage! Die Spannung wie auch explizit Angst als Gefühl ist etwas, das ich sogar explizit hervorrufen will.

Sind deine Raufspiele dann ein sicherer Ort?

Porträt von Merle

Merle.

Ja. Jede Person, die mitmachen möchte, erklärt sich in einer Anfangsrunde dazu bereit – na, verpflichtet sich eigentlich dazu, sich für die nächsten 2 x 1,5 Stunden einer Aufgabe zu widmen. Die Aufgabe besteht darin, die „Nein“-Regel durchzusetzen. Das wird dadurch realisiert, dass alle in einem Kreis sitzen und der Raum in dessen Mitte auf diese Weise offen ist für zwei Menschen, die einander begegnen. Der Kreis außen hält diesen Raum sowohl körperlich als auch durch Aufmerksamkeit auf das Geschehen. Sollte ein „Nein“ in der Mitte ausgesprochen werden, ist der Kreis außen mit dafür verantwortlich, dass es zunächst akzeptiert und dann demzufolge, was die das Nein aussprechende Person spezifiziert, gehandelt wird.

Zudem ist jede Person, die teilnimmt, für sich selbst verantwortlich. Das sage und erkläre ich mehrfach in der Anfangsrunde und die Teilnahme ist nur nach Unterschreiben einer Haftungsausschlusserklärung möglich. Das macht Vielen bewusst, dass es hier tatsächlich um etwas geht, hier macht sich auch die Spannung und mit etwas Glück direkt auch Angst bemerkbar. Eigentlich ist das aber ja nur wie im echten Leben auch: Niemand übernimmt Verantwortung für dich – außer dir selbst. Hier wird nur sehr direkt deutlich, dass du deine Grenzen selbst erkennen und mit einem „Nein“ kommunizieren musst. Sobald du dies tust, wird die aktuelle Aktion mit dir unterbrochen und du kannst spezifizieren, was du nicht möchtest oder komplett abbrechen. Das wird direkt akzeptiert.

Sicherer geht es kaum, würde ich sagen.

Sicherer würde es höchstens noch gehen, wenn man mit einem strengen Konzept von Konsens arbeiten würde, also dass bei jeder kleinsten Annäherung die andere Person erst verbal „Ja“ sagen muss. Deine Raufspiele sind aber komplett nonverbal (außer gelegentliche Schreie). Warum?

Hm. Ein strenges Konzept von Konsens, wie du es beschrieben hast, ist logisch nicht durchführbar – außer man betreibt vorher mit dem/der Partner*/in* Metakommunikation und klärt ab, wie kleinschrittig dieser Konsens gehalten wird. So oder so kann in keinem Fall Flow stattfinden, der aber ja gerade das Schöne an gemeinsamer Bewegung ist (ähnlich wie in der Kontaktimprovisation bspw.)

Schreie gibt es tatsächlich manchmal. War das, als du teilgenommen hattest, der Fall? Oft trauen sich die Teilnehmenden nämlich gar nicht, teilweise tabuisierte Gefühle zu verlauten. Schreien kann man ja aus unterschiedlichen Gründen: Aus Wut, vor Schmerz, vor Lust …

Wichtig ist allerdings: Nonverbal bedeutet nicht non-vokal! Alle Laute, Kauderwelsch, Pfeifen und Singen, Knurren, kurzum alles, wozu der menschliche Stimmapparat imstande ist und was gleichzeitig nicht verbal ist, darf gerne zur Kommunikation bzw. zum Besten verwendet werden. Dass der Raum nonverbal gehalten wird, ist auch keine Regel, sondern eher eine Empfehlung von mir.

Warum? Menschliche Annäherung findet – zumindest in dem, was den Meisten bewusst ist – zumeist verbal statt. Smalltalk ist ein gutes Beispiel hierfür. Unverfängliche Fragen und ein oberflächliches Gespräch suggerieren eine Art Nähe oder Vertrautheit, und die oft als unangenehm empfundene Stille ist erst mal gefüllt. Zumindest so lange, bis einem nichts mehr einfällt. Wenn man sich allerdings nur nonverbal begegnet, richtet sich das Bewusstsein auf einmal auf all die Dinge, die – bei den Meisten – unbewusst ablaufen. Das kann eine ganz eigene Welt sein. Auf einmal spielt eine Rolle, wie die andere Person auf mich wirkt. Wie nahe ich diese Person überhaupt an mich heranlassen möchte, und wo Berührung in Ordnung und schön ist. Grundlegend spannend an der Begegnung zweier Menschen finde ich allerdings diesen Moment am Anfang, wenn beiden klar wird, dass sie nicht wissen, was sie miteinander machen wollen, sich aber offensichtlich irgendwie füreinander interessieren. Wie die beiden daraufhin miteinander umgehen, welche „Sprache“ sie zusammen entwickeln, das ist eines der Dinge, die mich begeistern an den Raufspielen.

Kommen wir nochmal zurück zu „sexpositiven Räumen“. Wie würdest du diesen Begriff für dich definieren?

Das ist in meinem Verständnis vor allem erst mal ein Ort, an dem Nacktheit genauso erlaubt ist wie angezogen sein und Verkleidungen jeglicher Art. Im Grunde eine Art „radical self expression“ wie in den burning man Prinzipien. Dann gehört dazu, dass sexuelle Handlungen als etwas Normales betrachtet werden – Menschen können also Sex miteinander haben, man hört eventuell Orgasmen und sieht, wie sich Menschen (gegenseitig) Lust verschaffen. Fundamental wichtig finde ich hier etwas, das Peter Banki in einem seiner Workshops zu Sex & Philosophy gesagt hat, und zwar sinngemäß, dass ein sexpositier Raum dir das Recht gibt, dich selbst zu berühren, wann immer und wo du möchtest.

Schön finde ich, wenn der Raum konsensuell gehalten wird, also wenn offen Fragen gestellt werden, die sich zum Beispiel auf Handlungen wie küssen oder Berührungen beziehen können und wenn diese Fragen gleichermaßen mit „nein“ wie auch mit „ja“ beantwortet werden können und die Antworten direkt akzeptiert werden.

Für die Raufspiele ist hier wichtig, dass die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den zwei Menschen in der Mitte liegt. Selbstverständlich darf sich auch am Kreisrand berührt werden (auch hier gilt die „Nein“-Regel, doch muss zu jeder Zeit der Rahmen für die beiden in der Mitte gehalten werden können.

Was machst du noch für Workshops außer Raufspiele oder gibt es etwas, was du noch gerne anbieten würdest?

Da gibt es zum einen Kontakt- und Selbsterfahrungsseminare und zum anderen ganz viele Ideen.
In den Kontakt- und Selbsterfahrungsseminaren geht es, wie der Name schon vermuten lässt, um menschlichen Kontakt und authentische Begegnung. Diese werden hinterfragt, und zwar ähnlich der gestalttherapeutischen Sichtweise nach dem, was jetzt und im Moment vorhanden ist – an Gefühlen, an Assoziationen, an Bewertungen. Durch verschiedene Methoden der Selbstreflexion wie auch der bewussten nonverbalen Kontaktaufnahme wird es leichter, in einen ehrlichen Kontakt mit sich selbst wie auch mit anderen zu treten – vor allem in schwierigen Situationen.

Das geschieht sehr liebevoll und achtsam, auch wenn man sich sonst bei mir eher darauf einstellen muss, mit Vielfalt und Provokationen konfrontiert zu werden.

Zusätzlich biete ich Coaching an zu allen Themen, die sich um Gefühle, Emotionen, Beziehungen, persönliche Weiterentwicklung, Gender, sexuelle Orientierung etc. drehen.

Aktuell will ich unglaublich gerne bald den nächsten Vulven-Abdruck-Workshop zusammen mit Lulu geben! Hier wird mithilfe von Alginat ein Vulva-Abdruck erstellt, der dann mit Gips ausgegossen wird und dadurch erstaunlich detailliert ist. Vielleicht bekommen wir sogar die Möglichkeit, dies als Workshop in einem Frauen-Museum anzubieten.

Gibt es etwas, das du dir wünschen würdest, die Teilnehmenden würden es im Idealfall von deinen Workshops mit nach Hause nehmen?

Ich gehe davon aus, dass die Raufspiele einen so nachhaltigen Effekt auf die Teilnehmenden haben, dass diese sich etwas davon mit nach Hause nehmen. Was auch immer das sein mag. Eine Begegnung, ein Satz, ein Gedanke, das vergessene Taschentuch, ganz egal. Mein Wunsch besteht tatsächlich darin, dass sie dieses Etwas nicht für sich behalten mögen, sondern es anderen zeigen, mit anderen in Kontakt kommen.

Vielen Dank, Merle, für den ehrlichen Einblick in deine Überzeugungen und dein Arbeitsfeld. Wir wünschen dir viel Erfolg dabei und dass du noch viele Menschen in deinem Leben damit inspirieren wirst.