Zu den Grenzen der Szene

Eines der spannendsten Themen im Bereich des BDSM ist für mich die Frage nach den Grenzen. Da gibt es viele Ansatzpunkte: Grenzen setzen, Grenzen überschreiten, die Grenzen einer Beziehung, die persönlichen Grenzen jedes Einzelnen … das Spektrum ist schier grenzenlos.

Mir geht zu dieser Thematik ein Gespräch nicht aus dem Kopf, das ich vor vielen Jahren mitangehört habe. Zu dieser Zeit war ich noch nicht aktiv in der Szene unterwegs und meine Meinung zu SM beschränkte sich auf „soll doch jeder machen, was er mag“.
Damals war ich als angehende Autorin auf einer Konferenz unterwegs und wurde in der Pause Zeugin eines Gesprächs zwischen zwei Verlegerinnen, die für einen Erotik-Verlag mit erweitertem BDSM-Bereich arbeiteten. Die beiden unterhielten sich über einen entfernten Bekannten, der wohl einmal mit seiner Partnerin in den Wald gegangen sei, um diese an einer selbsterstellten Holzkonstruktion zu kreuzigen – ganz klassisch, inklusive Nägeln, Schweiß und Blut.
Die zwei Verlegerinnen sahen in diesem Mann den Inbegriff eines Psychopathen, der den „Deckmantel“ des BDSMlers nutzte, um seinen abartigen und kranken Hobbys zu frönen. So etwas wäre ja nun völlig daneben, so die beiden, und man sollte überlegen, ob man da nicht rechtliche Schritte einleiten könnte.
Das war in etwa der Moment, als ich mich leise in das Gespräch einschaltete. „Na ja, wenn es den beiden gefällt?“
Ich erntete konsternierte Blicke. „Nein, Sie haben das nicht richtig verstanden“, kam schließlich die Antwort: „Der hat das wirklich mit Nägeln gemacht. Durch die Haut!“
Noch einmal hakte ich vorsichtig nach: „Schon, aber … wenn sie das so wollte? Wo ist das Problem?“
Der Tonfall der beiden wurde etwas hilflos ob so viel groben Unverständnisses.
„Also, ich denke ja doch …“
„… das ist doch nur noch krank …“
„… man kann ja nicht einfach …“
Und dann das endgültige Urteil: „Irgendwo muss doch mal eine Grenze sein.“

Dieser Satz ist mir seit jenem Gespräch nicht mehr aus dem Kopf gegangen. „Irgendwo muss doch eine Grenze sein“ – ist das so? Braucht unsere Szene irgendwo eine feste, endgültige Grenze, und wenn es nur ist, um sich von potenziell gemeingefährlichem und auch selbstgefährdendem Verhalten abzugrenzen?
Was ist noch Ausdruck der individuellen Persönlichkeit und wo wird das eigene Verhalten zu einem Angriff gegen die Allgemeinheit?
Es ist nicht einfach, abzuschätzen, wo Grenzen helfen und wo sie die Lage nur verkomplizieren.

Ich selbst lebe in einer glücklichen Beziehung mit meinem Gebieter, der die vollständige Befehlsgewalt über mich innehat. Ich werde artgerecht gehalten, was dazu führt, dass ich fast immer irgendwo an meinem Körper blaue Flecken, Gertenspuren oder Bisswunden zeige.
Gleichzeitig trage ich gerne kurze Kleidung – das hat weder etwas mit Provokation zu tun noch mit Exhibitionismus, ich habe schlichtweg etwas gegen das Gefühl von unnötigem Stoff an Armen und Beinen. Aber egal, warum ich mich so kleide, das Ergebnis spricht für sich: Ich zeige die Spuren von körperlicher Gewalt und es stört mich nicht, wenn andere diese zu Gesicht bekommen.
Viele Menschen sind nun der Ansicht, dass ich damit gewisse Grenzen überschreite. Damit sind nicht nur die Grenzen des öffentlichen Anstands gemeint, es geht auch um wohlbegründete Sorgen und Einwände. So wurde ich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass ich mit meiner Art, blaue Flecken unbeeindruckt zur Schau zu stellen, Missbrauchsopfern ein schlechtes Vorbild liefere und die Folgen häuslicher Gewalt in den Augen der Gesellschaft verharmlose. Im Zuge dessen wurde ich insbesondere von Feministinnen gefragt, ob ich denn nicht zumindest auffällige und frische Flecken mit langärmliger Kleidung verdecken könnte.
Das klingt nach einem validen und verständlichen Ansinnen – zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerer Betrachtung läuft diese Bitte jedoch darauf hinaus, dass ich dazu gedrängt werde, meinen Körper angemessen zu verhüllen, um mit meiner persönlichen Sexualität nicht das moralische Empfinden der Gesellschaft zu stören.
Ganz ehrlich: Nein, dazu bin ich nicht bereit.

Denn es gibt bei dieser Frage der persönlichen Vorbildfunktion ja immer noch eine zweite Seite. Für jede Frau, die beim Anblick von blauen Flecken denkt: „Hui, was ist denn der passiert?“, gibt es eine, die sich darüber freut, ihre eigenen Wünsche und Vorlieben so offen ausgelebt zu sehen. Oder wichtiger noch: eine oder einen, der sich bislang für seine sexuellen Neigungen geschämt hat und sich nun durch mein öffentliches Zur-Schau-Tragen in seinen Gedanken bestätigt und unterstützt sieht.
Dies ist ein Punkt, in dem die Schwulen-Szene der BDSM-Szene weit voraus ist. „Müssen die das denn so offen zeigen?“ – Dieser Satz, der noch vor wenigen Jahren in Bezug auf ein händchenhaltendes schwules Paar gang und gäbe war, zeugt heute eher von einem etwas antiquierten Weltbild des Sprechers. Für diese Entwicklung war ein langer und anstrengender Weg nötig – ein Weg, der uns in unserer Szene in vieler Hinsicht noch bevorsteht.
Es geht dabei natürlich nicht nur um kommentarlose blaue Flecken. Ich trage seit nunmehr fünf Jahren ein einigermaßen auffälliges Halsband, das ich weder für die Arbeit noch für Besuche bei der Familie ablege. Ebenso bleibt der Ton, in dem mein Gebieter mit mir spricht, der gleiche, egal, wer gerade in der Nähe ist. Diese Öffentlichkeit der Beziehung ist nicht für jeden möglich: Es gibt genug Berufe, allen voran die Arbeit mit Kindern (womöglich noch unter katholischer Schirmherrschaft) oder der öffentliche Dienst, in denen das Wissen um die private Sexualität das berufliche Aus bedeuten könnte. Mein Gebieter und ich befinden uns in der Luxussituation, dass wir unsere Beziehung auch in der Öffentlichkeit so leben können, wie sie für uns wichtig und richtig ist. Und so tun wir dies auch – nicht trotz, sondern wegen der Wirkung, die ein öffentliches Zur-Schau-Stellen einer BDSM-Beziehung auf die Außenwelt hat. Und wer sich von unserer (vielleicht etwas härteren) Gangart des BDSM nicht richtig vertreten fühlt, den lade ich ein, seine eigenen Vorstellungen und Lebensweisen ebenso ungeschminkt darzustellen, wie wir es tun.

Und da gelangen wir schnell wieder zum allgegenwärtigen Thema der Grenzen. Denn was ist „eine BDSM-Beziehung“? Wer entscheidet, wie gut unser vorgelebtes Beispiel als allgemeines Vorbild taugt? Wo sind die Grenzen dessen, was man der Gesellschaft noch zumuten möchte und darf?
Ich begegne dieser Frage regelmäßig, wenn es um meine Bücher geht. Vor zwei Monaten wurde mein zweiter Dark-Romance-Roman „Clair de Lune“ veröffentlicht, und wie schon bei dem Vorgänger „Eine Nachtmär“ habe ich dabei kein Blatt vor den Mund genommen. Meine Bücher beschreiben die dunklen Tiefen von BDSM, so wie ich sie sehe: verführerisch, hart, erbarmungslos. Ich erzählte keine Geschichten von „echten“ SM-Beziehungen, sondern ich zeichne Bilder von den intimen Begierden, die mich selbst an dieser Art der Sexualität interessieren. Und dabei bleiben Prinzipien wie SSC oder auch nur ein grundsätzlicher Konsens oft genug auf der Strecke.
Nun sagen mir manche Leser, dass ich mit dieser Art Geschichten eine gefährliche Büchse der Pandora öffne. Was für ein Bild wird denn in der öffentlichen Meinung von BDSM gezeichnet, wenn ich in meinen Büchern alle Regeln einer gesunden Kink-Beziehung in den Wind schreibe? Stelle ich damit nicht ein destruktives Beziehungsbild dar, mit dem ich das Thema BDSM eher dämonisiere, statt es realitätsnah darzustellen?
Möglicherweise – aber vielleicht ist gerade diese „andere“ Darstellung auch nötig. Ich bin der Meinung, auch diese Seite des Spektrums sollte ausgeleuchtet werden.
Wenn ich persönlich nach Pornotexten suche, die mir gefallen, dann muss ich dafür in gruselige Ecken des Internets gehen. Dabei zeigen mir andere Reaktionen auf meine Bücher, dass ich mit meinen Vorstellungen gar nicht so weit abseits des allgemeinen Bedarfs liege – es gibt genug Leser, die spüren, dass meine dunklen Erotik-Phantasien bei ihnen etwas zum Schwingen bringen, von dem sie bislang vielleicht nicht einmal wussten, dass es vorhanden war. Sie fühlen sich auf einer intimen Ebene angesprochen und gefesselt; offenbar können meine Texte ihnen etwas geben, das sie bisher in dieser Art noch nicht gefunden haben. Und gerade daher halte ich es für wichtig, dass auch solch eine extremere Variante von BDSM dargestellt wird.

Das bringt mich nun wieder zu jenem Gespräch zwischen den zwei Verlegerinnen, dessen Zeuge ich vor vielen Jahren wurde, und ihrem Ruf nach klaren Grenzen. Und meine persönliche Antwort auf diese Forderung ist klar: Nein, da muss es keine Grenze geben. Ist es nicht der eigentliche Sinn unserer Szene, dass niemand mehr wegen seiner Begierden ausgegrenzt wird, ob nun heimlich oder offen ausgelebt (solange dabei niemand gegen seinen Willen verletzt wird)?
Ich kann nur sagen, ich bin ehrlich dankbar, dass meine eigene Verlegerin nicht dieser Denksparte angehört. Das Einschränkendste, was ich bezüglich meiner Manuskripte bislang von ihr gehört habe, war das Urteil: „Diese Szene war ja schon ziemlich krass – aber ich glaube, irgendwie ist sie in der Geschichte auch nötig.“
Ich denke, diese Einschätzung würde ich gerne als Leitthema für meine Bücher und vielleicht auch mein ganzes Leben sehen: Vielleicht etwas zu krass, zu weit abseits der Norm, aber irgendwie auch nötig.

Herzlichen Dank, Ananke, für diesen äußerst lesenswerten Beitrag zu einem Thema, das uns alle immer wieder beschäftigt.

Ananke lebt mit ihrem Ehemann und Gebieter seit mehreren Jahren in einer 24/7-Beziehung. Sie arbeitet als Schriftstellerin und hat mehrere Historische sowie Dark-Romance-Romane veröffentlicht. Ihr jüngster Roman ist „Clair de Lune“, die düstere Fortsetzung zu „Eine Nachtmär“.