Geborgenheit und Autonomie

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photo credit: Kristin Wall via Flickr cc

Ich glaube, eines der Hauptargumente für eine monogame Beziehung ist, dass sich der Partner verpflichtet, seine Nähe möglichst häufig zur Verfügung zu stellen. Wenn man einen Partner hat, der ein hohes Bedürfnis nach Nähe hat, kann dies aber zu einem Verlust der eigenen Autonomie führen – man lebt dann nur noch für den anderen. Mit Autonomie meine ich in diesem Zusammenhang die Selbstbestimmung über das eigene Leben und die damit zusammenhängende Entscheidungsfreiheit. Während man in Partnerschaften die Wahl hat, wie autonom alle Menschen sein wollen, ist das in einem Vater/Mutter-Kind Verhältnis anders: Kinder sind (bis zu einem gewissen Alter) von der mütterlichen/väterlichen Nähe abhängig, deswegen wäre es verkehrt, zu früh Grenzen zur Wahrung seiner Autonomie zu setzen.

In promisken Kreisen schützen sich manche Menschen vor dem Verlust ihre Autonomie, indem sie andere auf emotionaler Distanz halten. Diese Distanz äußert sich, indem sexuelle Handlungen zwar genossen werden, tiefere emotionale Bindungen aber unerwünscht sind. Im Gegensatz zu diesen Menschen haben viele polyamoröse Menschen ein Bedürfnis nach emotionaler Bindung bzw. der daraus entstehenden Geborgenheit und wollen deswegen nicht gerne mit zuvor genannten Menschen verglichen werden.

Ein Stück (Entscheidungs-)Freiheit für einen Partner aufzugeben, finde ich nicht schlimm – wenn ich dafür Geborgenheit zurückbekomme. Ich denke, es ist möglich, sich Geborgenheit gegenseitig zu schenken, ohne gleich vollkommen abhängig voneinander zu werden. Wahrscheinlich wäre es einfacher, wenn ich meine Autonomie leichtfertig aufgeben könnte, da die meisten Menschen mein Bestreben nach Autonomie leider als Zeichen sehen, dass ich mich emotional nicht binden wollen würde. Warum ist mir dann die Autonomie so wichtig?

Hinter der Angst vor dem Verlust der Autonomie steckt das Bestreben nach Autarkie. Autarkie im Sinne davon, selbstständig genug zu sein, dass ich mich im Notfall selbst versorgen kann und möglichst unabhängig von anderen Menschen bin. Dies führt wiederum dazu, dass mich keine Person durch ein Abhängigkeitsverhältnis zu irgendetwas zwingen kann. Mir ist klar, dass es immer Dinge geben wird, bei denen man von anderen Menschen abhängig ist, wie z.B. dass sie einem Zeit und Aufmerksamkeit einräumen. Das muss aber nicht zu einer Hierarchie, in der Menschen einen zu starken Einfluss auf andere haben, führen. Wenn alle Individuen selbst mitbestimmen und die Beziehungsdynamik gemeinsam steuern, können die Bedürfnisse jedes Individuums besser berücksichtigt werden. Ohne diese Gleichberechtigung wäre wahrscheinlich die Bildung von Konsens nicht möglich.

In solch gleichberechtigten Verhältnissen habe ich drei Vorteile: Erstens fällt es mir leichter, meine Meinung zu sagen, da diese vom anderen auch ernst genommen wird und genau so wichtig ist wie andere Meinungen. Zweitens fühlt sich der Umgang mit einer Person unbeschwerlicher an, wenn ich nicht befürchten muss, dass meine Meinung einen zu starken Einfluss auf sie hat. Drittens ist es natürlich eine größere Ehre, wenn jemand nach einer heftigen Diskussion zu derselben Meinung gelangt, als wenn man dem anderen – ohne ihn verstanden zu haben oder von seinem Standpunkt überzeugt zu sein – nur Recht gibt.

Die Deutschen werden im internationalen Vergleich gerne von anderen Ländern als distanziert beschrieben. Mal abgesehen von dieser Generalisierung glaube ich, dass diese Distanz falsch verstanden wird. Bei den meisten Menschen, die ich kennen lerne, finde ich in irgendeiner Art sowohl das Bedürfnis nach Geborgenheit als auch nach Autonomie.

In meinem Artikel Solo-Polyamorie – was bleibt? hatte ich das hier beschriebene Autonomiebedürfnis kritisiert, da ich es weiterhin schwierig finde, mich emotional auf eine Person einzulassen, wenn man nicht Teil des Lebens der anderen Person wird. Allerdings kann ich auch mein eigenes Autonomiebedürfnis nicht ganz von der Hand weisen. Wenn ihr eine gute Art und Weise gefunden habt, diese scheinbaren Gegensätzlichkeiten in Einklang zu bringen, lasst es mich in den Kommentaren wissen.