Unsicherheiten

Je mehr ich in meine Gefühle hinein spüre, desto stärker merke ich, wie schwer (im Vergleich zu anderen unangenehmen Gefühlen) es mir fällt, Unsicherheit auszuhalten. Seit ich mich vermehrt in sexpositiven Räumen aufhalte (Artikel dazu wird noch folgen), werde ich aber immer häufiger mit meinen Unsicherheiten konfrontiert. Diese Räume fordern mich heraus, Verantwortung für meine Gefühle zu übernehmen. Dafür muss ich mir u.a. meine Wünsche eingestehen und zulassen.

Es ist für mich gar nicht so einfach, jemandem leidenschaftliche Gefühle und Wünsche mitzuteilen. Denn häufig steckt hinter den Gefühlen nicht nur eine Leidenschaft, sondern auch ein Bedürfnis nach Bindung. Das wäre an sich nicht besonders schlimm, aber dieses Bindungs-Bedürfnis hängt bei mir gleichzeitig mit einer Verlustangst zusammen: Denn nur, wenn ich mich wirklich an etwas binde, kann ich es verlieren bzw. bekommt der Verlust eine emotionale Bedeutung. Da nichts ewig ist, liegt in einer Bindung zu jedem Zeitpunkt latent das Potenzial eines Verlustes. Und darin liegt der Kern meiner Unsicherheiten in Beziehungen.

Beruhigende Wirkung von Kuscheleinheiten

In Situationen der Meinungsverschiedenheit mit einer mir sehr nahe stehenden Person kann es vorkommen, dass ich nicht mehr inhaltlich jemandem zuhöre, sondern versuche zu verstehen, was die Worte für unsere Beziehung bedeuten (siehe auch: Vier-Seiten-Modell von Friedemann Schulz von Thun). Da die Worte bei Meinungsverschiedenheit negativ erscheinen, befürchte ich, die Beziehung wird in Frage gestellt und ich könnte verlassen werden. Das passiert zum Glück bei mir nicht so regelmäßig bzw. mit zunehmenden positiver Erfahrungen in einer Beziehung immer seltener als am Anfang, wenn noch unklar ist, wie gut man zusammen passt. Aber wenn es passiert, kann ich nicht vernünftig gegensteuern und habe keine Kontrolle über die aus den Verlustängsten entstehende Unsicherheit: Ich werde innerlich unruhig bis panisch.

Die Macht von Kuscheln über meine Gefühle kann ich gar nicht häufig genug unterstreichen. In Situationen der Unruhe und Panik wegen Verlustängsten hilft es mir unheimlich gut, miteinander zu kuscheln. Wenn ich z.B. kritisiert werde oder mit der anderen Person verschiedener Meinung bin, kann mir durch Kuscheln vermittelt werden, dass ich – trotz dieser Worte – auf der Beziehungsebene nichts befürchten muss. Ich habe auch schon versucht, in Situationen der Unsicherheit nachzufragen, was das alles gerade für unsere Beziehung bedeutet. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir Worte in solchen Situationen nicht besonders gut helfen. Eine liebevolle Berührung kann viel mehr vermitteln als Worte, und man muss dafür nicht mal seinen Wortfluss unterbrechen.

Jedoch kann ich eine Berührung in solchen Momenten nicht von jedem Menschen und/oder in jeder Situation erwarten. Sei es, weil Menschen gerne nur in einem Gefühl – also nicht kritisch und liebevoll zugleich – sein möchten, weil Menschen die Sicherheit brauchen, sich jederzeit –insbesondere wenn man sich gegenseitig verletzende Dinge sagt – trennen zu können oder aus einem ganz anderen Grund: Kuscheln ist keine Strategie, die ohne das Mitwirken des Anderen funktioniert.

Kennenlernprozess beschleunigen?

Es gibt noch mehr Beispiele, die in mir Unsicherheit erzeugen als nur Meinungsverschiedenheiten. Aber alle haben sie gemeinsam, dass ich einen mir noch recht fremden Menschen nicht einschätzen kann. Erst mit dem Kennenlernprozess verstehe ich nach und nach, wie wer was meint und was das für die Beziehungsebene oder die Wünsche an mich bedeutet. Bis dahin muss ich meine Unsicherheit aushalten. Denn wenn ich es nicht aushalte, wird es zur Aufgabe meines Gegenübers meine Gefühle aufzufangen. Aber ich möchte die Verantwortung für meine Unsicherheiten nicht an andere abgeben.

Ich bin so ungeduldig im Kennenlernprozess und will so schnell wie möglich so viel wie möglich über jemanden herausfinden. Dazu drängt mich die Strategie, mich möglichst schnell beim anderen sicher zu fühlen (also die Unsicherheit zu vermeiden). Meine Erfahrung zeigt mir aber, dass das Kennenlernen Zeit braucht und ich mir eher Chancen des Kennenlernens verbaue, wenn ich mich und andere zur Schnelligkeit dränge. Denn dann lerne ich nicht um des Liebens willen jemanden kennen, sondern aus der Vermeidung der Unsicherheit.