Der Sinn des Lebens

Eins vorweg: Ich werde euch mit diesem Artikel keine Antwort darauf geben können, was genau der Sinn des Lebens ist. Den muss jeder für sich selbst finden. Wahrscheinlich ist die Frage nach dem Sinn des Lebens eine der zentralsten Fragen vieler Menschen in der Pubertät. Im Modell der „Phasen der psychosozialen Entwicklung“ beschreibt Erik Homburger Erikson diese Lebensphase mit dem Thema „Identität vs. Identitätsdiffusion“. D. h. dass alle Menschen (in psychosozialer Hinsicht) in der Pubertät versuchen, mit den bisher gesammelten Erfahrungen eine Ich-Identität zusammenzufügen. Durch positive Erfahrungen gelingt das einfacher und kann zu einem gesunden Selbstvertrauen führen. Wird jedoch diese Krise nicht erfolgreich gelöst, können Jugendliche keine stabile Ich-Identität entwickeln und schließen sich Gruppen an, die über klare Strukturen verfügen.

Erste Sinnkrise

Ich erinnere mich noch sehr gut an die erste Sinnkrise in meinem Leben gegen Ende meiner Pubertät. Meine Eltern hatten ihr Haus verkauft und waren nach Costa Rica ausgewandert, während ich in Deutschland blieb. Zuerst war ich erleichtert und voller Lebensfreude, mein altes Leben hinter mir zu lassen und etwas Neues zu beginnen. Doch in meinem neuen Umfeld wiederholte sich meine Vergangenheit. Die Menschen in meinem Umfeld machten mir klar, dass ich irgendwie anders und merkwürdig sei. Erst nach einiger Zeit baute ich mir mein eigenes Umfeld mit wenigen ausgelesenen Menschen auf, die mir noch viele Jahre wichtig sein würden. Die Arbeit als Bauzeichner gab mir Struktur für den Alltag, um irgendwie durch die Sinnkrise zu kommen, ohne verrückt zu werden. Ich hatte furchtbare Angst davor, verrückt zu werden und glaubte nicht daran, dass meine Zukunft positiv werden könnte. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass ich irgendeine höhere Aufgabe brauche und entschied mich dafür, ein eigenes Manga-Buch herauszubringen. Dies gab meinem Leben einen neuen Sinn. Erst viele Jahre später sollte ich erfahren, dass diese Phase eine mittelschwere Depression war. Eine wahrscheinlich ziemlich verbreitete Krankheit in diesem Alter.

Zwischenschub: Intimität und Solidarität vs. Isolierung

Die Krise für die Lebensjahre zwischen 20 und 45 Jahren beschreibt Erikson mit dem Konzept „Intimität und Solidarität vs. Isolierung“. Durch die gefestigte Ich-Identität wird es ermöglicht, Intimität in Partnerschaften zu erleben. Denn nach Eriksons Theorie erlebt man Intimität durch ein Sich-verlieren und Sich-finden im Anderen. Außerdem hilft die Ich-Identität dabei, sich dem Anderen zu öffnen. Dem gegenüber steht die Isolation von anderen Menschen. Er beurteilt diese Erfahrung der Isolation und der Distanzierung als wichtige Lebenserfahrung für jeden Menschen. Nach Erikson werden Lebenskrisen besser bewältigt, wenn man in den Phasen zuvor ein gesundes Verhältnis zwischen den Polen der entsprechenden Krisen gefunden hat.

Romantische Beziehungen als Sinn des Lebens

Das Projekt mit dem Manga-Buch funktionierte nicht. Stattdessen machte ich erste Erfahrungen, wie es sich anfühlt, begehrt zu werden, und fand mich immer seltener hässlich. Die romantische Liebe war ein Begleiter, der mich durch Höhen und Tiefen schickte. Aber wie es bei so vielen Menschen ist, machten intime Beziehungen mein Leben sinnvoll. Schließlich fand ich eine Partnerin, mit der ich mich so stark intim verbunden fühlte, dass wir beide voneinander behaupteten, einen Seelenpartner gefunden zu haben. Wir führten eine polyamore Beziehung über die Entfernung Kassel-Stuttgart. Ich glaubte fest daran, dass wenn man sich genug liebt, sich das Leben miteinander schon irgendwie finden wird. Als wir jedoch einsehen mussten, dass jeder irgendwie sein eigenes Leben führte und wir kein gemeinsames Leben mehr hatten, verlor die Beziehung ihren Sinn. Ich hatte mich so in eine promiske Phase kutschiert, dass ich komplett die Aufmerksamkeit für sie verloren hatte. Die Trennung stürzte mich erneut in eine mittelschwere Depression. Ohne es zu merken, hatte ich den Großteil des Sinns meines Lebens von dieser Beziehung abhängig gemacht. Der Verlust wog deswegen besonders schwer. Diese Erfahrung war so dramatisch, dass in mir sogar hin und wieder Schuld- und Schamgefühle aufkommen, wenn ich promiske Gedanken bekomme. Denn Promiskuität ist auf emotionaler Ebene bei mir mit dem Verlust wichtiger Menschen gekoppelt. Da hilft auch wenig, wenn mein Kopf es besser weiß, dass das schwachsinnig ist. Kann ich vielleicht deswegen keinen Sex in Sexclubs haben?

Ich kann noch heute meinen Sinn des Lebens nicht komplett von romantischen Beziehungen unabhängig machen. Inzwischen bringt neben meinem gesellschaftlichen Wirken auch meine Wahlfamilie viel Sinn für mein Leben. Nun mag vielleicht nicht für jeden der Sinn des Lebens mit sozialen Bindungen zusammenhängen wie bei mir. Aber dennoch bin ich mir sicher, dass jeder Mensch bewusst oder unbewusst einen Sinn in seinem Leben braucht, um glücklich zu sein. Das ist insofern wichtig, als dass man auf der einen Seite an Dingen, die Sinn ins Leben bringen, festhalten sollte, aber gleichzeitig man an manchen Dingen nicht festhalten kann. Das Bewusstsein darüber kann also helfen, zum einen seine Prioritäten sinnvoll zu stecken, und zum anderen gleichzeitig Strategien für den ungünstigsten Fall zu entwickeln, dass man etwas so Wichtiges in seinem Leben verlieren sollte. Ansonsten trifft einen der Verlust unerwartet und mit voller (unnötiger) Härte.

Verwendete Literatur

Stangl, W. (2019). Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erik Homburger Erikson.

Mehr Informationen zu der psychosozialen Entwicklung nach Erikson auch unter: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/EntwicklungErikson.shtml