Umgang mit Gefühlen bei mehrtägigen Events
Über BDSM-Partys habe ich ja schon geschrieben – stellt euch jetzt vor, diese Party geht mehrere Tage lang. Selbstverständlich ist es dann nicht durchgehend eine Party mit Musik und Tanzfläche, sondern meist mit Begleitprogramm wie Workshops, Filmabend oder gemeinsamen Essen. Trotzdem ist es eine Herausforderung, damit umzugehen, dass lauter offene Menschen in sexpositiver Atmosphäre tagelang diverse sexuelle Dinge tun oder darüber sprechen. Ich möchte mit euch teilen, was mir hilft, hier nicht völlig abzudrehen.
Freiräume schaffen
Eines der Dinge, die bei mir mit am besten helfen, ist Natur! Raus, ins Grüne, oder zumindest an einen Ort, wo ich frische Luft habe. Eine Stunde Spaziergang ist bei mir enorm hilfreich, um wieder etwas an Abstand zu gewinnen – gern auch mit einem tollen Menschen zusammen, aber nicht in großer Gruppe. Oder mich auch einfach mal mit einem Buch in eine Ecke verkrümeln und in fantastische Welten vertiefen.
Wichtig hierbei finde ich, sich diese Zeit bewusst zu nehmen. Oft ist es vom Programm einer Veranstaltung her möglich, dass man nonstop an Programmpunkten teilnimmt. Ich habe herausgefunden, dass ich – übrigens bei Gruppenveranstaltungen jeglicher Art, nicht nur im sexuellen Kontext – besser damit fahre, ein paar Punkte zu schwänzen. Gar nicht unbedingt, weil mir das Programm inhaltlich zu viel wird. Oft sind solche Events ja an einem Wochenende – und an einem normalen Wochenende ist in der Regel mindestens ein halber Tag dabei, an dem ich nur rumhänge und nicht produktiv bin. Diese Zeit brauche ich auf Veranstaltungen ebenso! Das hat nichts mit Desinteresse zu tun, sondern mit ganz normalem Ausgleich, den man nach einer vollen Woche eben braucht. Und wie das immer so ist mit Pausen, wirkt sich das aufs gesamte Wohlbefinden und damit auch die Wahrnehmung der restlichen Veranstaltung aus.
Mit Unsicherheiten umgehen
Pablo hat erst kürzlich über Unsicherheiten geschrieben und einige wichtige Punkte angesprochen. Ich kann Vieles davon bestätigen, z.B. dass man auf solchen Events viel mehr mit Unsicherheiten konfrontiert ist als im Alltag. Bei mir kommt das daher, dass viele (sexuelle) Bedürfnisse und Wünsche, die sonst eindeutig Wunschdenken sind, potenziell erfüllt werden können. Das ist total elektrisierend, aber auch beängstigend. Nicht zuletzt auch, weil man viel Kommunikation [vgl. hier oder hier] dafür benötigt. Gerade der Kennenlernprozess, den Pablo ebenfalls anspricht, ist eine schwierige Phase, weil man sich kommunikativ aufeinander einstellen muss. Und man – je nach Veranstaltung und dem, was man tut – womöglich auch viel öfter als sonst gefordert ist, Stellung zu beziehen. Weil man verführerische Angebote bekommt und jedes einzelne davon annehmen oder ablehnen kann.
Was mir dabei hilft, ist, mir Mühe zu geben. So simpel das jetzt klingen mag: Ich meine damit vor allem, mich anzustrengen, freundlich zu den anderen Menschen zu sein. Also wenn ich etwas geben mag, das zu geben, und wenn nicht, dann aber auch nicht. Ich finde es wichtig, Ablehnungen freundlich zu formulieren und, sofern sie nicht generell sind, das auch zu sagen. Es ist ein Unterschied, ob jemand meine Berührungen an sich ablehnt oder heute einfach schon zu viel erlebt hat, um sie noch genießen zu können.
Umgekehrt gibt es auch den Fall, dass man unsicher ist, weil man sich ausgeschlossen fühlt. Ich kenne diese Momente zum Glück jeweils immer nur für kurze Phasen, aber selbst dann sind sie echt unangenehm. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn alle meine engeren Kontakte gerade kuschelnd mit jemandem in der Ecke sitzen oder sich mit tollen Menschen verabredet haben, während ich gerade nichts am Laufen habe und mich ein wenig verloren fühle. Eine Patentlösung außer Durchatmen habe ich auch noch nicht gefunden. Tendenziell hilft es mir auch, über meinen Schatten zu springen und einfach mal einen Menschen anzuquatschen, den ich bislang noch nicht kenne.
Fokus nicht verlieren
Für mich sind solche Veranstaltungen oft ein Auf und Ab der Gefühle. Von „Ich will sie alle! Alle, alle, alle!“ über „Sind alle anderen attraktiver als ich und haben schon tollere Erfahrungen gesammelt?“ bis „Oh je, sooo viele Menschen …“ ist alles mal dabei. Vieles davon muss ich „einfach“ nur aushalten. Ich denke, der Trick besteht darin, sich zu vergegenwärtigen, dass es eine Ausnahmesituation ist und die Gefühle daher gelegentlich mit einem durchgehen. Ansonsten finde ich es wichtig, das jeweilige Grundgefühl oder -bedürfnis herauszufinden – bin von der einen Person gerade so angefixt, weil sie wirklich so toll ist, oder weil sie einfach nach einem tollen Kuschelpartner aussieht und ich gerade total gern kuscheln möchte? Normalerweise habe ich für diese ganzen Prozesse, herauszufinden, was ich wie mag, mehr Zeit. Auf solchen Events läuft das oft im Schnellverfahren ab, was zumindest bei mir immer noch gut funktioniert, aber auch anstrengend ist. Daher mag ich Spaziergänge und Rückzug in jeglicher Form so gern: Weil ich hier meine Gedanken und Gefühle in Ruhe erforschen und auch wieder ein bisschen Distanz gewinnen kann.
Lieblingsmenschen als Fixpunkte
Die allerbeste Hilfe auf solchen Events sind gute Freund*innen. Ich schätze es sehr, wenn ein paar Menschen dabei sind, von denen ich weiß, dass sie sich einfach immer freuen, mich zu sehen. Zu denen ich sowohl hingehen kann, wenn ich etwas erlebt habe, worüber ich sprechen möchte, als auch einfach so, wenn ich mich langweile oder allein fühle. Es ist durchaus eine Kunst, hier das richtige Maß zwischen Nähe und Abstand zu finden – einerseits verbringe ich total gern Zeit mit meinen Freund*innen, andererseits lerne ich keine neuen Menschen kennen, wenn ich zu sehr auf diejenigen fixiert bin, die ich schon kenne. Ich plädiere daher eindeutig dafür, auf gar keinen Fall alle Programmpunkte als Pärchen oder Clique zu besuchen – ihr nehmt sonst anderen Menschen die Möglichkeit, euch als einzelne Person kennenzulernen.
Falls man einen solchen Menschen nicht im Gepäck hat: Oft findet sich einer. Ich habe schon mehrmals erlebt, dass sich gerade bei mehrtägigen Veranstaltungen Event-Freundschaften ergeben. Mit Menschen, die genauso wenige feste Fixpunkte haben wie man selbst, und die sich freuen, wenn man sich immer wieder über den Weg läuft und vom Erlebten gegenseitig berichtet. Offenheit schadet hier also nicht.
Fazit: Bei sich selbst bleiben
Ich denke, alle meine Learnings gehen in dieselbe Richtung: Möglichst nah bei sich selbst bleiben. Gerade in Gruppen kann man sich wunderbar verlieren und es ist auch absolut wunderbar, sich inmitten eines Kuschelhaufens geborgen zu fühlen. Trotzdem ist es wichtig, sich selbst treu zu bleiben und auch zu gelegentlichen einsiedlerischen Anwandlungen zu stehen. Nur so kann man solche Veranstaltungen ohne schalen Beigeschmack oder Reue oder Unzufriedenheit im Nachhinein genießen. Und um jetzt nicht so negativ aufzuhören: Ich konnte auf diese Weise einige wunderschöne Erfahrungen sammeln und großartige Menschen kennenlernen – und gelegentlich auch neue Seiten an mir selbst entdecken. Es lohnt sich also sehr, sich auf solche Events einzulassen.