Absichtslose und bedingungslose Liebe
Als ich angefangen habe, das Werk „Unisono – über das Verhältnis von Einheit und Freiheit in der Liebe“ (Link zum vollständigem Werk, siehe unten) von unserer Gastautorin Eva zu lesen, schrieb ich ihr: „Na super, mit diesem Werk kann ich eigentlich unser Blog dicht machen, weil du alles, was ich versuche zu erklären, darin bereits beschrieben hast“. Sie beruhigte mich daraufhin mit „Ach du, die Liebe wird uns auch noch weiterhin genug Rätsel aufgeben“. In meinem Artikel „Geborgenheit und Autonomie“ konnte ich mir die Frage „Wie kann man die scheinbaren Gegensätze von Bindungsbedürfnis und Autonomiebedürfnis in Einklang bringen?“ nicht beantworten. Unisono hat mir die Frage des damaligen Artikels nun beantwortet.
Ich analysiere häufig die Bedürfnisse in mir (siehe z.B. „Bedürfnisse und Backups“) und stelle dann fest, dass mir einiges fehlt oder es an etwas mangelt. Dadurch fühle ich mich abhängig, bedürftig und schwach. Es gibt verschiedene Strategien, damit umzugehen – ich suche z.B. verzweifelt nach allen möglichen Gelegenheiten, wie ich meine Bedürfnisse stillen könnte. Aber egal, welche Strategie man wählt, führt dies dazu, dass man durch die Voreingenommenheit keinen guten Umgang mit den Gefühlen haben kann. Allerdings bin ich auch nicht bereit, meine unerfüllten Bedürfnisse mit Ersatzbefriedigungen zu füllen.
„Die moderne Obsession mit der „Selbstliebe“ versucht, das Bedürfnis nach Anerkennung mit Autonomie zu befriedigen. […] In dem Maße, wie die Autonomie in den Mittelpunkt des idealen Ichs sowie des Beziehungsideals rückte, wurde emotionale Verschmelzung zu einer Gefahr für die Autonomie. Indem die Verschmelzung seines eigenen Ichs mit dem der anderen und rückhaltlose Hingabe (insbesondere wenn diese nicht erwidert wird) zum Zeichen einer emotionalen Pathologie wurde, beseitigten die psychologischen Wissenschaften die alte Assoziation von Liebe und Transzendenz; einer Kraft, die den Willen und die individuellen Bedürfnisse übersteigt.“ Seite 36, 37, Unisono
Der springende Punkt ist, wenn Anerkennung (schon per Definition) etwas ist, das man nur von außen bekommen kann, ist es dann sinnvoll, seine Beziehungen auf Anerkennung auszurichten, nur weil man bei diesem Bedürfnis einen Mangel in sich spürt? Natürlich nicht. Aber man kann auch Selbstliebe anders als als Ersatzbefriedigung einsetzen: Nämlich als Methode, die eigene Bedürftigkeit anzunehmen und zu akzeptieren. Dafür muss aber auch ganz klar sein: Es ist okay, bedürftig zu sein! Jeder Mensch ist mal mehr oder weniger in seinem Leben bedürftig. Und niemand kann einem sagen, wann man nicht mehr bedürftig sein wird. Meine Bedürftigkeit ohne Scham zeigen zu dürfen und sie als liebenswerten Teil meines Selbst zu präsentieren, macht mich zwar verletzlich, aber dadurch verliere ich nicht meine Würde. Im Gegenteil: Ich werde überhaupt erst spürbar für andere.
Dadurch dass ich aber auch mit meiner Bedürftigkeit „richtig“ bin, brauche ich keinen anderen Menschen mehr, der für meine Bedürfnisse verantwortlich ist. Ist es dann sinnvoll, keine Beziehungen mehr einzugehen? Natürlich nicht. Denn es geht uns besser, wenn unsere Bedürfnisse gestillt sind. Aber ich bin der Überzeugung, dass Beziehung nicht bedeutet, man hätte einen Anspruch auf die Erfüllung der Bedürfnisse durch den anderen bzw. dass die Erfüllung meiner Bedürfnisse durch eine Beziehung kontrollierbar und berechenbar wird. Vielmehr ist die Beziehung eine gemeinsame Unternehmung von Menschen, Verantwortung füreinander zu übernehmen und sich gegenseitig zu unterstützen. Die Beziehung erkennt hierbei jeden Beziehungspartner als eigenständige Person mit eigenen Bedürfnissen an, die erfüllt werden können – aber nicht müssen! Die Liebe bzw. die amourösen Zustände beruhen dann nicht auf dem Ziel, seine Bedürfnisse zu erfüllen, sondern ermöglichen das Verständnis und das Mitgefühl, die Bedürfnisse des anderen zu spüren. Diese absichtslose Liebe ermöglicht es mir dann herauszufinden, was der andere braucht und (da ich mir meiner Ressourcen und Grenzen sehr bewusst bin,) ob ich etwas für die Erfüllung der Bedürfnisse meiner Geliebten geben möchte. Paradoxerweise ist die Liebe NACH dieser Entscheidung (die ich jeden Tag aufs Neue treffen muss) dann nicht mehr absichtslos, aber die Motivation entstand aus Zuneigung – bzw. einer absichtslosen Liebe – und nicht aus Gier.
„Ich will nicht behaupten, dass psychologische Techniken nicht hilfreich sein können, doch sie bergen die Gefahr, in der Vergangenheit verhaftet zu bleiben und sich fortwährend in immer neuen Spiralen reflexiver Selbstbetrachtung zu drehen. […] Wir sind also frei zu entscheiden, wie wir lieben und leben wollen, nach welchen Werten und Tugenden wir streben, welchen Handlungskonzepten wir folgen, welche Prioritäten wir setzen. Was es für uns bedeutet, ein sinnerfülltes Leben zu leben. Wie wir Menschen wählen, wie wir uns auf sie beziehen, wie wir Beziehungen räumlich und zeitlich strukturieren. […] Entscheidend für die Liebhaber der Welt ist nicht, ob sie „gut“ sind, sondern ob ihre Handlungen die Welt verbessern, ihr nützen. Eine allzu große Liebe für das eigene Leben, die Autonomie des modernen Subjektes ist keine Quelle der Freiheit, sondern der Unterdrückung.“ Seite 60 und 74, Unisono
Durch diese Erkenntnis ist mir nun auch wieder klar geworden, dass ich bedingungslos und absichtslos lieben möchte. Mir gelingt das leider nicht immer, aber ich übe mich darin, indem ich mein Handeln stets daraufhin hinterfrage, ob ich aus Zuneigung oder Gier handle. Bevor ich die Erfahrung gemacht habe, dass romantische Beziehungen keinen stabilen Sinngeber für mein Leben darstellen (siehe Artikel „Der Sinn des Lebens„), hatte ich das bereits gelebt. Ich muss jedoch zugeben, dass ich mich damals in der romantischen Beziehung sicher gefühlt hatte. Vielleicht gerade weil ich keinen Mangel an Liebe in mir spürte, war es einfach, Liebe bedingungslos und absichtslos zu geben. Nun spüre ich seit langem wieder durch meine Wahlfamilie ganz viel Sicherheit in mir und vielleicht ist das eine gute Ausgangsbasis, um wieder bedingungslos und absichtslos zu lieben!?
Quelle: Unisono